Buchbesprechung | Veröffentlicht in MIZ 2/16 | Geschrieben von Christoph Lammers

Rezension von Frans de Waal: Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote. Moral ist älter als Religion

Frans de Waal: Der Mensch, der Bonobo und die Zehn Gebote: Moral ist älter als Religion. Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2015. 365 Seiten, gebunden, 24,95 Euro. ISBN 978-3-608-98045-5

Die Naturwissenschaft dringt seit Jah­ren immer tiefer in die Gefilde der Re­ligionen vor. Bestes Beispiel dafür ist die Frage nach dem Ursprung der Moral. War, dank des Einflusses der monotheistischen Religionen, lange Zeit den Menschen moralisches Handeln vorbehalten – schließlich wird der Mensch bis heute als Krone der Schöpfung bezeichnet – ist man in der Naturwissenschaft längst viele Schritte bzw. Erkenntnisse weiter. Moralisches Verhalten, so die 
Beobachtung aus verschiedenen Diszi­plinen der Biologie, ist ein natürliches 
Phänomen und im Tierreich weit verbreitet. Doch die Frage, wo der Ur­sprung moralischen Verhaltens liegt, ist bisher nur unbefriedigend beantwortet worden. Der niederländische Zoologe und Verhaltensforscher Frans de Waal nimmt sich in seinem neuesten Werk dieser Frage an und beleuchtet sie auf beeindruckende Weise.

De Waal zählt zu den führenden 
Wissenschaftler_innen auf dem Gebiet der Primatenforschung und hat im Laufe der letzten Jahrzehnte zahlreiche Bücher veröffentlichen, die das Verhältnis von Menschen und Menschen­affen beleuchten.

In acht Kapiteln versucht de Waal zu zeigen, dass soziales Verhalten bereits bei Tieren zu beobachten ist. Um dies zu untermauern, bietet er eine Fülle an Beispielen aus seinen Beobachtungen von Bonobos und Schimpansen. Der Autor ist überzeugt, dass der Mensch von Natur aus gut ist. Damit spricht er sich gegen die von ihm als Fassadentheorie genannte Vorstellung aus, wonach Moralität von außen bzw. (religiös gedacht) von oben dem Menschen aufgesetzt wurde. Moralisches Verhalten, so de Waal, entstehe nicht auf einer „abstrakten geistigen Ebene, sondern durch soziale Interaktionen“. Der Autor kritisiert in seinem Buch verschiedene philoso­phische und religiöse Positionen. Aller­dings übt er genauso scharfe Kritik am Naturalismus und den, wie er sie nennt, fundamentalistischen Neo­atheisten.

Das Buch beeindruckt dort, wo de Waal seiner Profession als Anthropologe und Primatenforscher Raum gibt und an vielen Beispielen aufzeigen kann, dass wir uns von unseren nächsten Verwandten kaum unterscheiden und wir mehr mit ihnen teilen, als vielen religiös geprägten Menschen lieb ist. Dort jedoch, wo das Buch den Pfad der Wissenschaft verlässt, um sich im Streit zwischen dem Naturalismus auf der einen und den Religionen auf der anderen Seite für einen undogmatischen Weg zu positionieren, zeigt der Autor deutliche Wissensdefizite. Zwar ist de Waal zuzustimmen, wenn er feststellt, dass „die verschiedenen Religionen universelle menschliche Werte übernommen, sie in ihre jeweiligen Erzählungen eingebettet und so zu ihren eigenen gemacht“ hätten. Seine Annahme jedoch, dass es weltweit keine areligiöse Kultur gäbe, an der man untersuchen könne, ob Moral ohne Religion möglich ist, ist schlichtweg falsch. Die Berichte des Linguisten Daniel Everett über die Pirahã-Indianer in Lateinamerika diese religionszentrierte Sichtweise längst widerlegt.