Buchbesprechung | Veröffentlicht in MIZ 4/19 | Geschrieben von Christoph Lammers

Rezension von Malte Thießen: Immunisierte Gesellschaft.

Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert

Malte Thießen: Immunisierte Gesellschaft. Impfen in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Van­denhoeck & Ruprecht, Göttingen 2019. 400 Seiten, 
gebunden, Euro 70.-, ISBN 978-3-525-37053-7

Als 2018 der Film Eingeimpft in die deutschen Kinos kam, war die Aufregung allerorts groß. Während in Bioläden und Elterncafés lautstark die Meinung vertreten wurde, der Film würde endlich die Sorgen und Ängste von Eltern ernstnehmen und kritische Fragen an die (deutsche) Impfpraxis stellen, waren Wissenschaftler_innen und Wissenschaftsjournalist_innen deutlich skeptischer (siehe dazu MIZ 3/18). Die Gesundheitswissenschaftlerin Cornelia Betsch, die sich seit Jahren mit dem Thema Impfen und Impfgegnerschaft beschäftigt, fasste dies treffend wie folgt zusammen: „Das ist Kunst, was Herr Sieveking gemacht hat, kein wissenschaftlicher Informationsfilm.“

Dass die Meinungen zum Film bzw. zu dessen Message so weit auseinandergehen, hat sicherlich mit der emotional stark aufgeladenen Debatte zu tun. Einer Debatte, bei der es, ähnlich wie bei dem Streit um Homöopathie, selbst im Familien- und Freundeskreis zu Verwerfungen kommen kann. Zwei unterschiedliche Konfliktlinien treffen dabei aufeinander: auf der einen Seite diejenigen, die sich auf der Grundlage von emotionalen Bedürfnissen und Befürchtungen eine Meinung gebildet haben und diese vertreten. Auf der anderen Seite diejenigen, die sich an Fakten und auf der Basis wissenschaftlichen Arbeitens gewonnene Erkenntnissen zu orientieren versuchen. Konflikte sind damit vorprogrammiert.

Die teils heftigen Verwerfungen zwischen den Befürworter_innen und Gegner_innen einer Immunisierung, sind nicht neu. Im Lauf der Geschichte flackerte der Konflikt immer wieder auf, wobei die Argumente zum Teil die gleichen blieben.

Malte Thießen, Leiter des LWL-
Instituts für westfälische Regional­geschichte, hat mit seiner Habilita­tions­schrift eine grundlegende Arbeit zur Geschichte des Impfens in Deutschland vorgelegt, die als eine Art Vorgeschichte zur aktuellen Impfdebatte gelesen werden kann. Eine Geschichte, in welcher es um Vorsorge der Menschen ebenso geht wie um die Sicherheit des Staates und Selbstbehauptung gegenüber dem Staat. In sechs Kapiteln, ergänzt durch ein gut gefülltes Quellen- und Literatur­verzeichnis, erarbeitet der Autor zentrale Aspekte unserer heutigen Debatte: es geht um die Immunisierung als „Kulturgeschichte des Politischen“, wie der Autor es nennt, ebenso wie um die Verwissenschaftlichung der Immunisierung. Darüber hinaus untersucht Thießen die Verquickung von Wissenschaft und Wirtschaft und schließlich betrachtet der Autor die Praxistauglichkeit der Immunisierung.

Thießens Studie zur Sozial­geschich­te des Impfens ist überaus lesenswert und reich an Fakten, die in den aktuellen Diskussionen kaum bzw. keine nennenswert Rolle spielen – aber sollten. Wer die unterschiedlichen Posi­tio
nen verstehen will, wird um die Kultur­geschichte des Impfens, und damit um 
das Buch, nicht herumkommen. Wenn­gleich für viele kaum erschwinglich, immerhin kostet der Band 70 Euro, ist es allen ans Herz gelegt, die mit dem Thema näher befassen (möchten).