Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 3/14 | Geschrieben von Christoph Lammers

Religionskritik als Gesellschaftskritik

Als sich kurz vor den diesjährigen Landtagswahlen in Thüringen abzeichnete, dass es für ein Regierungsbündnis zwischen Linke, SPD und Grüne reichen könnte, schürte die Pfarrerstochter und Bundeskanzlerin Angela Merkel die Angst vor dem Gespenst des Kommunismus. Es könne doch nicht sein, so Merkel, dass „jetzt der Karl Marx in die Staatskanzlei getragen werden“ solle.

Mir scheint, dass es Merkel nicht allein darum geht, dass ein „Linker“ möglicherweise Ministerpräsident in
einem ostdeutschen Bundesland werden könnte. Schließlich ist Bodo Ramelow, obwohl der Linkspartei zugehörig, bibelfest und realpolitisch orientiert. Vielmehr geht es um eine Trendwende, die der Politik große Sor
gen bereitet. Die Zweifel an den Heils­versprechungen des Kapitalismus wer­den immer lauter. Das europäische Diktat der Alternativlosigkeit wird in vielen Ländern hinterfragt. In den Sozial- und Geisteswissenschaften und selbst in den Wirtschaftswissenschaften wird der Kapitalismus immer öfter einer schonungslosen Kritik unterzogen.1 Dabei greifen viele Kritiker_innen einmal mehr auf Karl Marx und seine Analysen der gesellschaftlich-ökonomischen Wirklichkeit zurück, wie er sie im 19. Jahrhundert formulierte.

Nun mag sich die eine oder der andere Leser_in unseres Magazins fragen, weshalb sich die MIZ auf den Spuren Karl Marx’ begibt? Was hat der Ökonom Karl Marx mit uns Säkularen zu tun? Uns geht es in diesem Heft nicht um eine Geschichtsstunde, in welcher wir die tief in der Gesellschaft verankerte Losung ‘Der Russe steht vor der Tür’ revidieren. Auch verzichten wir an dieser Stelle darauf, die Debatte um die „Kriminalgeschichte des Atheismus“ (MIZ 4/00) erneut aufleben zu lassen. Letztere war zum damaligen Zeitpunkt nicht unumstritten und aus meiner Sicht zu undifferenziert dargestellt.

Worum es der Redaktion geht, ist eine Diskussion anzustoßen. Wo liegt beispielsweise das emanzipatorisch-aufklärerische Potenzial im Denken von Karl Marx? Welche seiner Überlegungen sind für die säkulare Szene so relevant, dass es interessant wäre, seine Schriften aus den verstaubten Kisten der Antiquariate hervorzuholen und sich mit ihnen näher auseinanderzusetzen? Wo bestehen Überschneidungen zu anderen Denktraditionen der Auf­klärung, welche wir tagtäglich gegen den wachsenden Einfluss radikaler Gläubigen hier wie dort zu verteidigen suchen?

Bereits in unserem Schwerpunkt zum Neoliberalismus (MIZ 4/09) stellten wir heraus, dass die säkulare Szene ihr zu bearbeitendes Feld erweitern und gesellschaftliche Fragen, die bestenfalls zweitrangig schienen, stärker in den Fokus nehmen muss. An den Heilslehren und -versprechungen des Neoliberalismus ließ sich das sehr anschaulich exemplifizieren. Denn der Neoliberalismus schuf auch einen Reli
gionsmarkt, auf dem sich Gurus, Pseudotherapeut_innen, Priester und
Gottkönige tummeln und satte Gewinne in Milliardenhöhe einsacken. Diese Entwicklung allein aus religionskritischer Perspektive zu beleuchten, würde dem
Problem nicht gerecht werden. Erst die Verknüpfung mit der sozialen Welt, in der die Menschen miteinander agieren, ermöglicht ein besseres Verständnis und zeigt Perspektiven der Veränderung auf. Karl Marx kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu, denn ein Blick in seine Arbeiten, insbesondere die zur Religionskritik, zeigen, dass für ihn Religionskritik immer auch Gesellschaftskritik war. Das eine war und ist ohne das andere nicht zu denken.

Für diesen Schwerpunkt haben wir die Autoren gebeten, einerseits einen Blick auf das Werk von Karl Marx zu werfen und der Frage nachzugehen, was es mit der Religionskritik bei Marx auf sich hat (vgl. dazu den Aufsatz von Axel Rüdiger). Andererseits war es uns wichtig, die Rezeptionsgeschichte des Marxismus (vgl. dazu den Aufsatz von Lutz Brangsch) näher in Augenschein zu nehmen. Denn die Entwicklungen nach Marx zeigen ein überaus interessantes Phänomen. Die Arbeiter_innenbewegung, die angetreten war, um die Gesellschaft mit Hilfe des Marxismus zu revolutionieren, verließ im Laufe der Zeit immer wieder den emanzipatorischen Pfad und schuf Strukturen, die die Rolle der Kirchen einnehmen sollten. Abgerundet wird der Schwerpunkt mit einem Interview (Richard Saage), in welchem Karl Marx’ Ökonomiekritik mit der Evolutionstheorie Charles Darwins zusammengedacht wird.

Wir möchten die Leser_innen dazu einladen, diese Debatte mit uns gemeinsam zu führen und Karl Marx’ Überlegungen als eine von vielen Analysen anzusehen, mit denen es uns möglich sein wird, ein naturalistisches und emanzipatorisches Weltbild in der Gesellschaft stärker als bisher zu verankern. Denn der Marxsche Imperativ, „(...) alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, ist für jede und jeden, die/der Religionen, Kirchen und Irrationalismus überwinden will, eine Pflichtaufgabe. In diesem Sinne, Geschichte wird gemacht!

Anmerkung

1 Vgl. Piketty, Thomas: Das Kapital im 21. Jahrhundert. München 2014. Es ist derzeit eines der meistdiskutierten Bücher im Feuilleton und eine faktenreiche Analyse kapitalistischen Denkens. Daneben sei an 
die wachsende Zahl an Dokumentationen erinnert, die seit einiger Zeit in den Medien zu finden sind (u.a. ARTE).