Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 2/13 | Geschrieben von Frank Welker

Religionen brauchen die Armut

Studien zeigen, dass Menschen in Ländern besonders stark religiös sind, in denen es keinen materiellen Wohlstand gibt oder in denen die sozialen Sicherungssysteme nicht funktionieren. Nimmt man diese Erkenntnisse ernst, dann müssten Religionsvertreter zu dem Schluss kommen, dass sie die Armut der Menschen brauchen, um nicht selbst überflüssig zu werden. Tatsächlich ist religiöse Armutsbekämpfung nur selten mehr als die Bewahrung des gesellschaftlichen Status quo.

Der Zusammenhang zwischen Religion und Armut

Es war Karl Marx, der einst die Religion wie folgt charakterisierte: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.“ Diese Analyse hat bis heute ihre Gültigkeit, wie die nachfolgenden Betrachtungen zeigen. Marx hatte folgerichtig erkannt, dass soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten dafür verantwortlich sind, dass sich Menschen nach Trost sehnen.

Betrachtet man nun das heutige Ausmaß von Armut und Ungleichheit, dann wird schnell klar, dass Religionen heute viel Trost spenden können. So halten 1% der Weltbevölkerung etwa 40% des weltweiten Vermögens. Auf die unteren 50% der Weltbevölkerung entfallen dagegen weniger als 1% des Vermögens. Noch immer verhungern täglich 30.000 Menschen. Um nun zu prüfen, ob die These korrekt ist, dass Religion vor allem in armen und Ländern ohne soziale Sicherheit besonders stark ist, kann man die Religiosität in den zu untersuchenden Ländern vergleichen mit dem dort herrschenden Wohlstand bzw. mit dessen Verteilung.

Der Sozialwissenschaftler Franz Höllinger hat dies bereits 2005 umfassend untersucht und auf der Basis von Daten des International Social Survey Programme und des World Values Survey festgestellt, dass es einen engen Zusammenhang zwischen fehlender Sicherheit und fehlendem Wohlstand auf der einen Seite und Religiosität auf der anderen Seite gibt. Auch der Evolutionsbiologe Nigel Barber kam nach einer Untersuchung von 137 Ländern 2011 zum gleichen Ergebnis. Aufschlussreich ist hier auch der erst kürzlich veröffentlichte Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung. Die höchsten Werte für Religion weisen in diesem Vergleich von 13 Ländern Indien, Brasilien, die USA und die Türkei aus. Während die Werte für Spanien, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, die Schweiz und Schweden niedrig sind. Schaut man sich daraufhin das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf an, dann haben die Länder mit hohem BIP/Kopf jeweils niedrige Werte für Religiosität.

Es gibt jedoch ein Land, das bei solchen Untersuchungen immer aus dem Rahmen fällt und das sind die USA. Dass die Religiosität in den USA als einem entwickelten Industrieland so hoch ist, hat natürlich Gründe. Zwar gibt es in den Vereinigten Staaten eine Menge Wohlstand, aber dieser ist extrem ungleich verteilt. Hinzu kommt, dass es in den Staaten praktisch keine staatlichen Fürsorgeeinrichtungen gibt. Dass in diesem eigentlich reichen Land immer mehr Menschen in Trailerparks, Zelten oder sogar in ihrem Auto schlafen müssen, ist traurige Realität. Wer Hilfe sucht, wird am ehesten noch bei religiösen Anbietern fündig. Religiöse Gemeinden bieten oftmals ein umfangreiches Netz an Hilfsleistungen an, natürlich nicht ohne einen missionarischen Hintergedanken.

Die Suppenküchenrepublik

Nun mag man einwenden, dass dies glücklicherweise in Deutschland anders ist. Doch diese Zeiten sind vorbei. Auch in Deutschland ist die Ungleichheit inzwischen sehr groß geworden. Eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) kam 2007 zu dem Ergebnis, dass 1% der Bevölkerung rund ein Viertel des gesamten Vermögens in Deutschland besitzt. Dagegen verfügten zwei Drittel der Erwachsenen über kein oder nur ein sehr geringes Vermögen. Aus den Daten zog das DIW den Schluss, dass Deutschland eine kleine Oberschicht (rund 10%), eine kleine Mittelschicht (rund 20%) und eine große Unterschicht (rund 70%) hat.

Dabei muss an dieser Stelle daran
erinnert werden, dass es die Sozial­demokratische Partei Deutschlands (SPD) war, die in dieser Hinsicht den Nährboden dafür gelegt hat, dass Kirchen und andere religiöse Heilsanbieter ihre Betätigungsfelder in diesem Bereich ausweiten können. Vor allem Basta-Kanzler Gerhard Schröder und sein „Superminister“ Wolfgang Clement haben letztlich dafür gesorgt, dass aus dem deutschen Wohlfahrtsstaat eine Suppenküchenrepublik wurde. Ganz bewusst haben die SPD-Genossen mit den Hartz-Reformen dafür gesorgt, dass wir heute einen Arbeitsmarkt haben, der geprägt ist von prekärer Beschäftigung, Hungerlöhnen und Perspektivlosigkeit. Zudem erwartet Millionen künftiger Rentner die Altersarmut.

Es ist also kein Wunder, dass Hilfs­einrichtungen wie etwa die Tafeln inzwischen zu einer tragenden Säule des weitgehend abgeschafften Sozialstaates geworden sind. Über 900 dieser Ein­richtungen versorgen inzwischen Hilfs
bedürftige mit Lebensmitteln und Mahlzeiten. Hinzu kommen noch zahlreiche weitere ähnliche Einrichtungen, wie Vesperkirchen, Mittagstische, ehrenamtlich strukturierte Kleider und Lebensmittelläden. Zwar sind nicht alle dieser Einrichtungen in kirchlicher Hand, aber doch direkt oder indirekt ein großer Teil. Unumstritten ist diese Art der Hilfe aber keineswegs. Zu Recht weisen Sozialwissenschaftler darauf hin, dass der Staat sich aus der Verantwortung stiehlt. Man kann hier dem Karlsruher Soziologen Stefan Selke nur zustimmen, der folgendes Fazit zieht: „Die Gewöhnung an Tafeln ... bedeutet auch die Gewöhnung an das Fehlen nachhaltiger Armutsbekämpfung in der Gesellschaft.“

Geradezu skandalös ist bezogen auf
die Tafeln, dass ausgerechnet die Un­ternehmensberatung McKinsey, die
wohl wie keine andere unsere Arbeits­welt verändert und Menschen zu Humankapital degradiert hat, die Tafel­bewegung förderte. Fairerweise muss man bezogen auf die Kirchen sagen, dass der Erfolg der Tafeln inzwischen auch einzelnen Kirchenvertretern un
heimlich geworden ist. Das ändert allerdings nichts daran, dass die Kirchen nur wenig zu einer nachhaltigen Verbesserung der Situation armer Menschen beitragen. Im Gegenteil: Auch in den Einrichtungen der Kirchen sind Leiharbeit und Lohndumping allgegenwärtig. Die Kirchen profitieren aber auch direkt von der Armut. Als es darum ging, Menschen zu zeigen, wie sie Strom sparen können, weil sie ansonsten die Kosten nicht mehr tragen können, stand sofort die Caritas Gewehr bei Fuß, um diese Aufgabe zu übernehmen. Armut schafft also auch Arbeitsplätze, zumindest bei den Kirchen.

Wie schnell übrigens ein Zusam­menstreichen des Sozialstaates nachteilige Auswirkungen haben kann, lässt sich am Beispiel Schweden nachvollziehen. Die dortigen gewalttätigen Unruhen in Stockholm sind nicht vom Himmel gefallen. In nur wenigen Jahren hat die konservative Regierung aus dem ehemaligen sozialdemokratischen Musterland eine „marktkonforme Demokratie“ nach deutschem Vorbild gemacht. Inzwischen klafft auch dort die Schere zwischen Arm und Reich weit auseinander. Vor diesem Hintergrund muss man sich nicht mehr darüber wundern, dass die dortigen Migranten sich verstärkt ihrer meist muslimischen Religion zuwenden und ihrem Unmut über soziale Benachteiligung auch gewalttätig Luft verschaffen. Eine Entwicklung, die leider auch hierzulande zu beobachten ist.

Religiöse Anbieter dagegen können in eine hoffnungsvolle Zukunft blicken. Derzeit ist kein Ende der neoliberalen Wirtschaftspolitik abzusehen, die uns zuerst die Zerschlagung des Sozialstaates, dann die Bankenkrise und zuletzt die Schuldenkrise inklusive der europäischen Massenarbeitslosigkeit bescherte. Wenn die Kirchen es mit der Armutsbekämpfung ernst meinen, dann seien sie hiermit dazu aufgerufen, mit der säkularen Bewegung zusammen an ihrer eigenen Abschaffung zu arbeiten und für einen fairen und sozialen Staat zu kämpfen.

Eine evangelische Kirche in Berlin. Armenspeisung unter dem Motto „Laib und Seele“ (Foto: Angela M. Arnold, CC BY-SA 2.0)