Staat und Kirche | Veröffentlicht in MIZ 1/18 | Geschrieben von Naïla Chikhi

Das Berliner Neutralitätsgesetz – Symbol der Aufklärung

Das Neutralitätsgesetz ist zukunftsweisend für Europa und die Welt, zumindest haben ich und viele andere das immer so empfunden. In ihm kristallisieren sich sozusagen die langen und mühsamen Kämpfe vieler in allen Kulturen zu findenden VorstreiterInnen der Aufklärung, der Menschenrechte und des Säkularismus. Ohne deren Errungenschaften hätte ich heute als deutsche Frau, algerischer Wurzeln und muslimischer Erziehung, nie ein solch freies und selbstverantwortliches Leben in Europa aufbauen können.

In meinem Herkunftsland gilt eine Religion als Staatsreligion, deren Dok­trin sich kaum jemand entziehen kann. 
Aus diesem Grund bin ich heute der Auffassung, dass ein demokratischer Staat sich nicht durch einen Glauben oder eine Weltanschauung, sondern durch ein integratives gesellschaft­liches Modell zu definieren hat. Amts­trägerInnen personifizieren den Staat. Ostentative Symbole drücken eine starke persönliche Überzeugung aus. Sie sind eine non-verbale Botschaft und haben einen besonderen Effekt, vor allem wenn sie von RichterInnen, PolizistInnen oder LehrerInnen getragen werden. Sie können schnell un­begründete Ressentiments erzeugen. 
Vor diesem Hintergrund garantiert das Neutralitätsgesetz, dass BürgerIn­nen keiner religiösen oder weltanschaulichen Beeinflussung durch StaatsvertreterInnen ausgesetzt werden und keine Bevorzugung oder Benachteiligung erfahren müssen.

Vor allem Schulen sollten frei von religiösen und ideologischen Symbolen sein. Denn im Sinne der Aufklärung ist die Schule kein Ort der Bekehrung, sondern ein Ort, an dem vielfältiges Wissen ohne jegliche Beeinflussung erworben werden kann. Die Schule soll einen Schutzraum darstellen, in dem SchülerInnen auch lernen, kritisch zu denken, dogmatische Beeinflussungen zu erkennen und sich davon zu distanzieren. Auch wenn diese aus dem familiären Umfeld stammen.

Aktuell soll ein weiterer wichtiger Aspekt berücksichtigt werden: Nicht selten haben geflüchtete Kinder und ihre Eltern religiös geprägte An­feindungen erfahren – sei es in der Heimat, auf der Flucht oder in den Unterkünften. So können demonstrative Glaubenssymbole Bedrohungsgefühle bei ihnen hervorrufen (Triggereffekt). Vor allem für geflüchtete Kinder ist es wichtig, in Deutschland unabhängig von ihrer Konfession, Herkunft oder ethnischen Zugehörigkeit ausgebildet zu werden.

Insbesondere Mädchen sollen in den Schulen neue Erziehungsmuster frei von dogmatisch diskriminierenden Weltanschauungen erfahren. Das Neutralitätsgesetz gewährt den geflüchteten Kindern zumindest in unserem Land ein Refugium, in dem sie sich patriarchalen, dogmatischen und ideologischen Diktaten entziehen können.

Darüber hinaus lässt das Neutrali­tätsgesetz in Übereinstimmung mit dem Prinzip der Gleichberechtigung keine geschlechtsspezifischen religiösen Verhüllungsvorschriften zu. So ermöglicht es insbesondere Schülerinnen, vielfältige Frauenbilder zu entdecken.

Im Laufe der Geschichte und noch heute zeigt sich in vielen Ländern, welche dramatischen Folgen die Überbetonung religiöser Rechte oder ideologischer Überzeugungen für ganze Gesellschaften haben kann. Die ersten Leidtragenden sind meist die Frauen. So zahlen etwa die muslimischen Frauen und Mädchen, die sich gegen eine Verschleierung wehren wollen, an vielen Orten der Welt immer noch einen hohen Preis. Denn die islamische Verschleierung der Frau birgt eine weitere spezifische Problematik. Sie gewährt dem fundamentalistischen Patriachat unter dem Deckmantel der Religion offenen Einzug in staatliche Institutionen.

Welches Frauenbild wird vermittelt, wenn geschlechtsspezifische reli-
giöse Verhüllungsvorschriften bei Amtsträgerinnen, aber auch bei Schü­lerinnen zugelassen werden? Wenn 
Lehrerinnen sich in ihrer Vorbild­funktion „züchtig“ zu bedecken haben, um nicht sexuelle Instinkte des Mannes zu wecken? Wie will eine kopftuchtragende Lehrerin Begriffe wie Säkularität, Selbstbestimmung und Emanzipation einem jungen Mädchen kohärent erklären, wenn sie sich selbst augenscheinlich einem religiösen, moralischen oder männlichen Diktat unterwirft?

Und wo bleibt die so geliebte Dif­ferenzierung und Vielfalt, die den Kindern näher gebracht werden sollen, wenn es um die muslimischen Frauen geht? Viele muslimische Mädchen sind heute nicht nur in ihrer Familie und Community einer starken „Kopftuch-Propaganda“ ausgesetzt. Auch in den Medien, selbst in Kindersendungen, scheint es nur noch verschleierte Mus­liminnen zu geben, als existierten nicht Millionen, die kein Kopftuch tragen. Von der Kopftuch-Barbie bis zu Islamic-Fashion – es scheint nichts unversucht zu bleiben, das machtvolle patriarchale Symbol gesellschaftsfähig zu machen.

Interessanterweise sind es fast ausschließlich kopftuchtragende angehende LehrerInnen, die auf das Zurschaustellen eines vermeintlich religiösen Symbols beharren. Allerdings sollte den Anwärterinnen schon vor Beginn ihres Studiums, spätestens während ihres Referendariats bekannt sein, dass in Berlin ein Neutralitätsgesetz existiert. Wenn die Vertreterinnen konservativer Strömungen trotzdem Sonderrechte fordern, ist es berechtigt, ihre tatsächliche Neutralität im Klassenzimmer zu bezweifeln und sich zu fragen, ob unterschwellig nicht auch Missionierung eine Rolle spielen könnte.

Positive und negative Religions­freiheit wurden geschaffen, um Anders­gläubige und Nichtgläubige vor dominierenden Religionen zu schützen. Das Berliner Neutralitätsgesetz verstärkt das Recht auf Religionsfreiheit, indem jede/r frei seine Religion ausüben kann, aber auch frei von Religionen leben darf. Das Gesetz garantiert somit das Prinzip der Gleichheit und schwächt Sonderrechte ab. In unserer modernen vielfältigen (multikonfessionellen und -ethnischen) Gesellschaft darf weder eine Privatperson noch eine Gemeinschaft über Privilegien verfügen. Das Einräumen von Sonderrechten für Gemeinschaften öffnet Tür und Tor für eine Spaltung sowohl unter den Migranten als auch von der Aufnahmegesellschaft.

Eine Aufwertung der ethnischen oder konfessionellen Zugehörigkeit der BürgerInnen oder AmtsträgerInnen würde alle Bemühungen um die Inklusion zunichte machen. Gerade in unseren angespannten Zeiten funktioniert für mich das Neutralitätsgesetz wie ein Anker, der das wogenumtoste Schiff der heutigen Gesellschaft vor dem Abdriften bewahrt. Einerseits nutzen Rechtsextremisten jede Gelegenheit, um Fremdenfeindlichkeit zu säen. Anderseits fordern linksliberale Stimmen das Prinzip des Pluralismus und betreiben dabei aber nicht selten einen kulturellen Relativismus. Beides fördert nur die Bildung von nebeneinander lebenden Gemeinschaften und toleriert sogar nicht selten gravierende Ungerechtigkeiten oder gar Menschenrechtsverletzungen vor allem gegenüber weiblichen Migranten. Das Neutralitätsgesetz garantiert zumindest eine Annäherung an den Menschheitstraum von Gleichheit und Freiheit, es symbolisiert die überaus wichtige Stimme der Mitte. Und es garantiert vor allem den ZuwanderInnen bessere, gerechtere und unparteiische Lebensbedingungen als in vielen ihrer Heimatländer.

Hundertprozentige Neutralität im 
Wortsinn ist tatsächlich unmöglich, dennoch schafft das Gesetz eine ethisch verbindliche Orientierung für alle Ver-
antwortungsträgerInnen in der Justiz, 
der Polizei und besonders im Schul­wesen. Das Neutralitätsgesetz gab mir 
die Chance, frei von jeglichen Diktaten, seien sie religiös, patriarchalisch oder 
ideologisch zu leben. Es garantiert mir, 
mich unabhängig von Herkunft, Kultur und Konfession in der Gesamtgesell­schaft zu entfalten. Gerade dank dieser Errungenschaft konnte ich mich bei meiner Ankunft in Deutschland dem sozialen und religiösen Druck meiner Community entziehen, um ein selbstbestimmtes Leben zu führen.