Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 3/12 | Geschrieben von Rolf Herzberg

„Nachgiebigkeit gegenüber den Religionslobbyisten“

Interview mit Rolf Herzberg über rechtliche Aspekte 
der Beschneidung

Sehr schnell nach der öffentlichen Debatte über das Urteil des Kölner Landgerichts hat der Bundestag einen Entschluss gefasst, die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Beschneidung neu
 festzusetzen. Mittlerweile liegt der Referentenentwurf aus dem
 Bundesjustizministerium vor. MIZ sprach mit dem Rechtswissen­schaftler Rolf Herzberg darüber, wie dieser aus einem juristischen Blickwinkel zu bewerten sei.

MIZ: Warum ist eine Beschneidung (juristisch) als Körperverletzung zu werten, wenn die Eltern des minderjährigen Kindes zugestimmt haben?

Rolf Herzberg: Dass die medizinisch unnötige, vor allem die rein religiös motivierte Beschneidung eines Jungen den Tatbestand der „Körperverletzung“ erfüllt, bestreitet niemand. Wer einem anderen ohne Heilungssinn vom gesunden Körper einen gesunden Teil abschneidet, erfüllt selbstverständlich die Voraussetzungen des § 223 StGB. Der Streit beginnt erst mit der Frage, ob im Fall der elterlichen Zustimmung die Körperverletzung gerechtfertigt sein kann. Das Landgericht Köln hat das mit der im Strafrecht herrschenden Lehre verneint. Und der Bundestag hat diese Rechtsansicht indirekt bestätigt. Denn der Beschluss vom 19. Juni 2012 geht davon aus, dass es einer Gesetzesänderung bedarf, um das politische Ziel zu erreichen: die Straflosigkeit vieler Beschneidungen, die medizinisch nicht erforderlich sind, wobei es natürlich in der Hauptsache um die rituellen, religiös motivierten Beschneidungen geht.

MIZ: Wie ist unter diesem Gesichts­­punkt der Referentenentwurf des Bun­desjustizministeriums zu sehen?

Rolf Herzberg: Als Empfehlung an den Gesetzgeber, mit einem zusätzlichen Paragraphen im Bürgerlichen Gesetzbuch (§ 1631 d BGB) die Be­schneidung in bestimmten Grenzen zu legalisieren. Die korrekt ausgeführte Beschneidung soll sowohl für den, der sie ausführt, wie für die Eltern, die ihn dazu auffordern, straflos sein, auch wenn sie medizinisch sinnlos ist. Vorgeschlagen wird dem Gesetzgeber eine Erweiterung der elterlichen „Per­sonensorge“. Sie würde künftig das Recht umfassen, „in eine medizinisch nicht erforderliche Beschneidung des nicht einsichts- und urteilsfähigen männlichen Kindes einzuwilligen, wenn diese nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt werden soll“.

In meinen Augen ist schon das Ziel nicht erstrebenswert. Außer in den Fällen der medizinischen Notwendigkeit sollten Körperverletzungen, die durch Abtrennung der Vorhaut begangen werden, rechtswidrig und strafbar bleiben. Aber es steht fest, dass der Gesetzgeber aus politischen Gründen die Beschneidung von Jungen weitergehend erlauben wird. Auch wenn man das akzeptiert – der Entwurf ist nicht akzeptabel. Er stellt die Erlaubniserweiterung in den Zusammenhang von Vorschriften zur „Personensorge“. Diese muss laut Gesetz der „Pflege“ und dem „Wohl des Kindes“ dienen (vergleiche §§ 1626, 1627, 1631 BGB). Es ist aber geradezu zynisch, so zu tun, als könnten Eltern ihr Kind dadurch „pflegen“ und seinem „Wohl“ dienen, dass sie ihm von seinem Geschlechtsorgan den sensibelsten Teil, der für das Empfinden sexueller Lust besonders wichtig ist, abschneiden lassen – von den Schmerzen und den drohenden Komplikationen gar nicht zu reden. Indem der Entwurf die unnötige Beschneidung als einen Akt der „Personensorge“ hinstellt, verschleiert er, worum es in Wahrheit geht: um eine schwerwiegende und folgenschwere Körperverletzung. Und erlaubt werden soll sie nicht, wie in Fällen medizinischer Indikation, zum Wohl und im Interesse des Kindes, sondern im (meist religiösen) Interesse der Eltern. Eine Vorschrift zur Lösung diesen Interessenkonflikts, die die Sondererlaubnis gewährt, einen Menschen körperlich zu verletzen, gehört ins Strafgesetzbuch, und zwar als ein offenes (und problematisches!) Bekenntnis in den Abschnitt „Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit“ (§§ 223 ff. StGB).

MIZ: Das bedeutet, dass nach Ihrer Meinung die Regelung im falschen Gesetzbuch steht. Sehen sie noch andere Mängel des Entwurfs?

Rolf Herzberg: Ja. Ich beanstande, dass sich der Entwurf vor der Antwort auf die folgende Frage drückt: Wie steht es um die Wirksamkeit der Einwilligung, wenn das Kind, in welcher Form auch immer, gegen den Eingriff protestiert? Die Referenten verneinen in der vorgeschlagenen Gesetzesregelung das elterliche Einwilligungsrecht, wenn „durch die Beschneidung … das Kindeswohl gefährdet wird“, und sie lassen in der Begründung die Bemerkung fallen, unter dem Aspekt der Kindeswohlgefährdung „kann der entgegenstehende Wille eines nicht einsichts- und urteilsfähigen Kindes zu berücksichtigen sein“. Das lässt alles offen. Wenn der Vierjährige um Verschonung fleht und trotzdem fachgerecht beschnitten wird, ist dann die Körperverletzung rechtmäßig oder rechtswidrig? Und gar nicht beachtet haben die Autoren das Verbot des Artikels 136 Absatz 4 der Weimarer Reichsverfassung, welches auch Bestandteil des Grundgesetzes ist (vgl. Art. 140 GG). „Niemand darf … zur Teilnahme an religiösen Übungen … gezwungen werden“. Ich vermute, dass bei den muslimischen Beschneidungen Verstöße gegen dieses Verbot alltägliche Praxis sind. Aber bei Licht besehen kommt auch die Säuglingsbeschneidung nicht ohne die Anwendung von Zwang aus. Denn das Kind ist zwar ahnungslos, aber es wehrt sich animalisch gegen die Misshandlung, und seine Abwehr muss mit Zwang unterdrückt werden.

Zu weit geht auch die Nachgiebigkeit gegenüber den Religionslobbyisten, dem vorgeschlagenen Paragraphen einen zweiten Absatz anzuhängen, der für die ersten sechs Monate auch Nichtärzten das Beschneiden erlaubt. „Wie der Name nahelegt“, sagt in einem Interview der Passauer Strafrechtsprofessor Holm Putzke mit Recht, „sind die Regeln ärztlicher Kunst mit dem Arztberuf verbunden. Dass unser Staat jüdischen und muslimischen Beschneidern, also in der Regel medizinischen Laien, gestattet, Säuglingen an den Genitalien herumzuschneiden, ist skandalös“. Außerdem versäumt es der zweite Absatz, Klartext zu reden. Die beim Mohel bislang geduldete Operationspraxis wird zwar andeutungsweise verboten: Auch der Mohel muss von nun an sein Werk „nach den Regeln der ärztlichen Kunst“ verrichten. Dazu gehören unter anderem die umfassende Aufklärung der Eltern, auch über die medizinischen Risiken und über die möglichen Langzeitwirkungen in sexueller Hinsicht; das Operieren unter sterilen Bedingungen und mit den richtigen Instrumenten; eine hinreichende und fachgerechte Schmerzverhütung – im Rahmen eines festlichen Rituals in der Synagoge oder einer Privatwohnung ist all das kaum zu erfüllen.

MIZ: Die Religionsgesellschaften berufen sich auf ihr „Selbstbestimmungs­recht“. Was ist aus juristischer Sicht dazu zu sagen?

Rolf Herzberg: Ihre Frage zielt auf
die grundgesetzliche Garantie, dass
jede Religionsgesellschaft ihre Angele­genheiten selbstständig ordnet und verwaltet (Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV). Die Referenten betonen in der Begründung, dass die Regelung in Absatz 2 dieser Selbstständigkeit Rechnung trage; d.h. vor allem: Auch
die Mohalim, die die jüdische Reli­gionsgemeinschaft benennt, dürfen im Sechsmonatszeitraum beschneiden. Aber diese Betonung ist nicht mehr als eine höfliche Verbeugung vor den Religionsgesellschaften. In Wahrheit spielt deren Selbstständigkeit in unserem Zusammenhang nicht die geringste Rolle. Natürlich kann keine religiöse Gemeinschaft entscheiden, von wem und in welchem Umfang andere verletzt und speziell Kinder beschnitten werden dürfen. Ein Mohel darf beschneiden, wenn und soweit das staatliche Recht es ihm erlaubt.

MIZ: Nun ist es so, dass das Kind ja nicht gefragt werden kann. Wer entscheidet denn letztlich für das Kind: die Eltern oder der Staat?

Rolf Herzberg: Die Eltern entscheiden, aber nur in dem Rahmen, den der Staat ihrer Entscheidungsfreiheit zieht. Der vorgeschlagene Paragraph erlaubt den Eltern, sich für eine Beschneidung ihrer Söhne zu entscheiden, die bestimmten Anforderungen genügt. Nicht wirksam einwilligen könnten sie z.B. in die Sterilisierung ihrer Kinder (§ 1631c BGB) oder in die Genitalbeschneidung ihrer Töchter.

MIZ: Gibt es religiöse Riten, die so stark zum Kernbestand einer Religion gehören, dass sie nicht verboten werden können, ohne den Anhängern das Bleiben im Land unmöglich zu machen? Oder wäre auch diese Konsequenz aus juristischer Sicht gerechtfertigt, wenn es um den Schutz der körperlichen Unversehrtheit geht?

Rolf Herzberg: Wenn ein Staat seinen
christlichen Bürgern z.B. das Abend­mahl oder gar das Beten verböte, dann gäbe es bestimmt Betroffene, die ihr Weiterleben in diesem Staat unerträglich fänden und alles daran setzen würden, das Land zu verlassen. Das – von mir befürwortete – Verbot eines religiösen Ritus, der in der schwerwiegenden Körperverletzung an einem wehrlosen Kind besteht, wird aber wohl kaum die Anhänger der betroffenen Religionsgemeinschaften aus dem Land treiben. Meines Erachtens ist die vielfach geäußerte Drohung, auf die Sie anspielen, nicht ernst zu nehmen. Der Historiker Michael Wolffsohn, der sich zum Judentum bekennt, hat sie „substanz- und taktlos“ genannt. Ich finde, jedem Juden und Moslem ist zumutbar, die religiöse Feier der Beschneidung ins Symbolische zu sublimieren und auf die Körperverletzung zu verzichten, wenn ein demokratisch beschlossenes Gesetz dies von ihm verlangt. Sollte es jedoch tatsächlich den einen oder anderen geben, der ohne das Ritual in seiner blutigen Form nicht leben und deshalb auswandern will, dann müssten wir diese Folge in Kauf nehmen.

MIZ: Es gibt im deutschen Recht die Möglichkeit, in bestimmten Fällen das
Recht des Herkunftslandes einer Per
son zur Anwendung zu bringen. Wäre
dies eine Karte, die Beschneidungs­befürworter ziehen könnten?

Rolf Herzberg: Das Recht eines anderen Staates kann für deutsche Gerichte im Rahmen des sog. Internationalen Privatrechtes eine Rolle spielen. So kann etwa für eine vertragliche Forderung auch in Deutschland entscheidend sein, ob sie nach französischem Recht verjährt ist. Für das Strafrecht gilt aber nichts Entsprechendes. Allerdings kann es im Rahmen der Schuldprüfung dahin kommen, dass man dem Täter einen Verbotsirrtum (§ 17 StGB) zubilligt, weil er wegen der Rechtslage in seiner Heimat seine Tat für auch in Deutschland unverboten gehalten hat. Das kann in Beschneidungfällen durchaus Bedeutung haben. Aber selbst die Zubilligung eines „unvermeidbaren“, die Schuld ausschließenden Verbotsirrtums würde die objektive Rechtslage nicht betreffen: Ist nach deutschem Recht die rechtsirrtümlich verübte Beschneidung verboten, dann ist sie es für jeden, der in Deutschland lebt.

MIZ: Wir danken für das Gespräch.