Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 1/17 | Geschrieben von Nicole Thies

Luther ist wieder in aller Munde – das hat Methode

Der Reformation wurde seit 2007 mit 
Ausstellungen, Themenreihen in allen Medien, Symposien etc. viel Aufmerk­samkeit und Steuergeld geschenkt. Höhepunkt ist das sog. Luther-Jahr 2017. Die Reformation, nunmehr an eine Person gebunden? Nach den Werbeplakaten zu urteilen: Eine ganze Dekade ist allein einem Menschen gewidmet. Dabei zahlt jede_r Steuerzahler_in für den Tourismushype. Nur weil Personengeschichte nach dem Motto „Große Männer machen große Politik“ sich vermeintlich leichter vermarkten oder verkaufen lässt als komplexer gesellschaftlicher, ökonomischer und sozialer Wandel?

Sehr fragwürdig. Denn längst ist nicht nur akademischen Kreisen und Hobbyhistoriker_innen bewusst, wer Luther tatsächlich war: Antijudaist/Antisemit, Frauenfeind, Handlanger der Fürsten, Dogmatiker und ein fest im Dämonen- und Hexenglauben verankerter Mystiker. Ein politischer Reaktionär, dessen Obrigkeitshörigkeit gepaart mit seiner Teufelsmetaphorik zur Niederschlagung des Bauernkrieges beitrug. Einen aussagekräftigen Ein­druck vermitteln die Zitate Karlheinz Deschners in diesem Heft.

Das gebetsmühlenartige Argument im 21. Jahrhundert: Luther sei ein ‘Kind seiner Zeit’, er und die Reformation seien wesentliches Merkmal, um den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit zu beschreiben. Damit wird unterstellt: Der vermeintliche Thesenanschlag ist eine Epochenmarke. Gleichbedeutend mit der sog. Entde­ckung der ‘Neuen Welt’ und dem rasanten Aufstieg der systematischen ‘Verwissenschaftlichung’ beispielsweise durch die Kartografie? Und auf einer Stufe mit Gutenbergs Erfindung des technisch seriellen Buchdrucks?

Mitnichten! Im Vergleich zum europäischen Humanismus und dessen Errungenschaften dürfte Luther nur eine Fußnote der Geschichte des beginnenden 16. Jahrhunderts sein. Wäre nicht die Wirkungsgeschichte: die Glaubenskriege. In der Folge der Glaubensspaltung und Konfessiona­lisierung werden diese über Jahr­hunderte Nordeuropas Schlachtfelder prägen. Und welche zutiefst menschenverachtende Bedeutung und Folgen das protestantische ‘Luther-Bild’ bis ins 20. Jahrhunderte hatte, machen die Beiträge von Bernd Kammermeier und Karsten Krampitz in diesem Heft deutlich.
Ein deutsch-nationales ‘Luther-Bild’ 
prägte vor 100 Jahren die Reforma­tionsfeierlichkeiten inmitten des Ersten Weltkriegs. Was hat sich geändert? Welches Bild wird heute gezeichnet?

Auffällig ist: Der Fokus auf Luther und seiner Wirkgeschichte für protestantische Herrschaftsträger_innen ist eher national ausgerichtet und weit weniger europäisch. Erschreckend also: Ein nachdenklich stimmendes ‘Dinosaurier’-Marketing angesichts der Kulturpolitik der letzten Jahrzehnte. Denn kulturpolitische Events – allen voran die großen Ausstellungen zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit, die in den letzten Jahren und Jahrzehnten Zuschauerströme anzogen – wurden auf den europäisch verbindenden Kontext zugeschnitten. Einzige Ausnahme ist Luther und die Reformationsdekade. Warum? Weil Luther im europäischen Vergleich kein wegweisender Denker war?

Diese Fragen sind mehrheitlich nur 
Nebendiskurse. Die MIZ hat sich für 2017 das Ziel gesetzt, die staatskirchliche Konstituierung der evangelischen Kirche und Luther als überbewertete Person in der europäischen Geistesgesichte der sog. „Frühen Neuzeit“ kritisch in den Blick zu nehmen. Demnach wird es nicht allein den einen Schwerpunkt mit der ersten Ausgabe 2017 geben. Sondern angelegt ist eine Reihe „#Luderismus 2017“ über die vier Quartalsausgaben 2017, um der Person Luther im europäischen Kontext und dem ‘Phänomen Lutherismus’ auf den Zahn zu fühlen.

Denn was weit weniger bekannt ist: Reaktionär meint, Luther hat die Ideen der sog. Renaissance, die vor allem in Italien und dessen ‘unabhängigen’ Stadtstaaten ihre Wirkung entfaltete, deutlich ausgebremst. Bekanntlich war diese ‘italienische Renaissance’ durchaus bei den europäischen Eliten vermittels der Reisen nach Italien und vor allem nach Rom geläufig und mehr als nur zur Kenntnis genommen. Indes zur ‘Überschätzheit’ der Person Luthers urteilte der Philosoph und Historiker Kurt Flasch in dem Überblickswerk Das philosophische Denken im Mittelalter (Stuttgart 2001, S. 538, 663): „Leonardo und Machiavelli, Erasmus und Thomas Morus arbeiteten an der Überwindung dieser Zerrissenheit, Luther stabilisierte sie. Sie nahmen dafür, aufs Nächste gesehen, ihre Ohnmacht in Kauf; aber dies beweist ihre geschichtliche Bedeutung. Mit ihnen, nicht eigentlich mit Luther, ging das Mittelalter zu Ende.“

Damit Luther ‘im rechten Licht’ er-
scheinen konnte, mussten andere Den
ker marginalisiert werden. So bewertete Flasch den Paduaner Philosoph des 14. (!) Jahrhunderts Marsilius von 
Padua – einen wegweisenden Vertreter 
des Frühhumanismus und Staatstheo­retiker deutlich vor Machiavelli – und das Ignorieren oder das ‘nur kurze Bemerken’ seiner Arbeiten in der europäischen Geistesgeschichte mit dem Zitat: „Dieses Schweigen hat Methode.“

Auf Luther gemünzt: Dieses Schreien hat Methode. Deshalb möchte die Redaktion in diesem Jahr den folgenden Ausgaben einer anderen, bisher leise formulierten Geschichtsschreibung den Vorrang geben...