Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 3/20 | Geschrieben von Gunnar Schedel

Keine Chance

Die Konfessionslosenverbände blieben 1990 ungehört

Als 1990 die beiden deutschen Staaten zu einem zusammengefasst wurden, ahnte nicht nur die MIZ-Redaktion, dass dem größer gewordenen Deutschland ein Pfaffenhut übergestülpt werden würde – sprich: dass das System der Privilegien für die Religionsgemeinschaften auch auf jene Gebiete übertragen werden würde, in denen vornehmlich Konfessionslose lebten. Und dass diese ebenso wie die dort lebenden Christen nicht gefragt werden würden, ob sie das denn wollten. Dass es damals nicht gelang, dem etwas erfolgreich entgegenzusetzen, hatte verschiedene Ursachen.

Ein Problem war, dass sich die Menschen in Ost und West in den vierzig Nachkriegsjahren – entgegen der Vereinigungspropagandasprüche wie „Wir sind ein Volk“ – in einigen Bereichen auseinandergelebt hatten. Das daraus resultierende Un­verständnis der westdeutschen Interessenver
tretungen der Konfes­sionslosen erwies sich als Hindernis für politisches Handeln. Illustriert wird dies durch das Auftreten eines damals sehr aktiven Hochschulprofessors auf einer Mitglieder­versammlung eines West-Verbands. Vollkommen irritiert vom Ergebnis der letzten Volkskammerwahl (bei der die Block­partei CDU und der CSU-Ableger DSU zusammen etwa 47% der Stimmen abgeräumt hatten) fragte er nach Gründen dafür, warum eine mehrheitlich konfessionslose Bevölkerung „christlich“ und damit gegen ihre eigenen Interessen wählt. So richtig objektiv gesehen die hinter dieser Frage stehenden Überlegungen waren (wie sich später beispielsweise an der Neuregelung des § 218 StGB oder der „Christianisierung“ des Sozialsystems zeigen sollte), so falsch war die Einschätzung, was die DDR-Bevölkerung damals bewegte.

Generell dominierten ökonomische Aspekte, die mit dem Übergang in den kapitalistischen Wirt­schaftsraum verbundenen Wünsche, Hoffnungen und Illusionen, weltanschauliche oder überhaupt ideelle Perspektiven. Was die Trennung von Staat und Kirche anging, kam aber dazu, dass diese in der DDR seit einer Generation weitgehend vollzogen war, dass die Menschen in der DDR, anders als in vielen Regionen in der BRD, sich dem Einfluss der Kirche entziehen konnten. Ein Kirchenmann fand dafür die Beschreibung, „dass die Menschen vergessen haben, dass sie Gott vergessen haben“. Langfristig war das die Voraussetzung dafür, dass sich alle kirchlichen Hoffnungen, die protestantischen Kernlande zu re-evangelisieren, als trügerisch erwiesen. 1990 jedoch hatte es zur Folge, dass die West-Verbände ein Problem lösen wollten, das im Osten fast niemand wahrnahm.

Hinzu kam, dass die Verbände der Konfessionslosen damals noch weniger als heute mit einer Stimme sprachen. Das lag zum einen daran, dass eine Dachorganisation wie der KORSO fehlte. Zum anderen stand einer Zusammenarbeit aber auch ein Ereignis im Weg, das auf den ersten Blick als Stärkung der laizistischen Kräfte wahrgenommen werden könnte: die Gründung eines DDR-Freidenker-Verbands im Januar 1989. Vor allem der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) grenzte sich schnell sehr deutlich von den DDR-Freidenkern ab, als Dokumente auftauchten, die nahelegten, dass es sich bei der Organisation um eine Initiative des SED-Politbüros handelte und das Ministerium für Staatssicherheit an der Gründung zumindest beteiligt war.

Dementsprechend verzichtete der 
IBKA im Juli 1990 auch auf die Un­terzeichnung der „Gemeinsamen Erklä­rung“. Darin forderten fünf säkulare Verbände, „alle Religions-, Glaubens- und Welt­anschauungsgemeinschaften vor dem Gesetz gleichzustellen und damit nicht gerechtfertigte Privilegien einzelner Kirchen aufzuheben“. Als konkrete Maßnahmen wurde unter anderem angeführt, die Kirchensteuer als Steuer abzuschaffen, den Religionsunterricht aus den öffentlichen Schulen zu nehmen, den Gotteslästerungsparagraphen zu streichen und die Repräsentation des nichtreligiösen Bevölkerungsanteils in 
öffentlichen Einrichtungen und Gremien 
zu verbessern. Die Distanzie­rung des 
IBKA ist aus seinem Selbstverständnis als an Grundrechten und Selbstbe
stimmung orientierter Basisorgani­sation (wie sie beispielsweise im Text 
zur Kampagne Atheist’90 zu finden ist) nachvollziehbar und angesichts der Kontakte in die ostdeutsche Bürger­rechtsbewegung war eine Kooperation mit ehemaligen SED-Kadern kaum vorstellbar. Und doch spiegelt sich auch hierin ein gewisses Maß an Unkenntnis, wie das gesellschaftliche Leben in der DDR funktionierte.

Bleibt die Frage, ob damals überhaupt etwas hätte anders laufen können. Im Rückblick würde ich angesichts der gesellschaftlichen Konstellation und Kräfteverhältnisse sagen: wahrscheinlich nicht. Zwar war die seinerzeit angekündigte „geistig-moralische Wende“ 1990 schon gescheitert, aber das Establishment in Staat und Kirche war in der Ära Kohl so deutlich westlich dominiert, dass die Bezugnahme auf positive DDR-Erfahrungen ausgerechnet im Bereich der Religion sehr unwahrscheinlich war. Das zeigte sich in den Folgejahren, als die evangelischen Kirchen in den neuen Bundesländern dafür eintraten, die Organisation der Militärseelsorge zu verändern und die Trennung von Staat und Kirche in diesem Zusammenhang als Freiheitserfahrung beschrieben. Der erbitterte Widerstand, auf den diese Initiativen stießen, lässt ahnen, mit welcher Intensität die Kirchen die bestehenden Privilegien verteidigt hätten, wäre es nach 1990 zu einer umfassenderen Diskussion über das Verhältnis von Staat und Kirchen gekommen.