Allgemeines | Veröffentlicht in MIZ 4/14 | Geschrieben von Nicole Thies

Ist, macht und hält Glaube gesund? – Packungsbeilage

Gläubige Menschen leben länger und haben ein besseres Immunsystem; leiden weniger häufig an Depressionen, Herzleiden, Bluthochdruck… Doch ist
das selbst nur Glaube? Oder leben gläubige Menschen einfach gesünder? Wirkt Religiosität auf die physische Befindlichkeit? Oder bedingen das
religiöse Umfeld und die Lebensverhältnisse den Umgang mit körperlicher
Gesundheit oder Gesundheitsempfin­den?

Ein weites und spannendes Feld zum Thema Wirkungen und Nebenwirkung. Aufgrund des steten wissenschaftlichen und medialen Interesses entschied die Redaktion der MIZ im April 2013 einen Schwerpunkt zum Thema „Ist Glaube gesund?“ zu setzen und dabei einen neuen Weg einzuschlagen: die Ausschreibung eines Call for Articles (CfA).1 Das Neue daran ist die aus der wissenschaftlichen Praxis entlehnte Vorgehensweise. Durch einschlägige Verteilerlisten und gezielte Ansprache von Einzelnen – also (vor-)definierte Kreise – wird mit einem Themenpapier informiert und darum gebeten, Vorschläge für einen Artikel einzureichen oder an interessierte Personen bzw. Personengruppen weiterzuleiten. Aus diesen Vorschlägen wählt dann die Redaktion in Hinblick auf die Schwerpunktsetzung aus. Die vielen guten Einsendungen haben die Redaktion bewogen, eine Doppelausgabe zu dem besagten Thema ‘Ist Glaube gesund?’ zu machen.

Alle oben genannten Schlagzeilen beziehen sich auf Forschungen und Studien, die sich mit dem Verhältnis von Religion / Glaube / Spiritualität zu Gesundheit / Wohlbefinden befassen. Diese Forschungsrichtung existiert seit wenigen Jahrzehnten und die Forschungsfragen und Ansätze sind in vielen Disziplinen angesiedelt, was die einzelnen Beiträge in diesem und dem folgenden Heft zeigen werden. Dennoch kann zunächst allgemein definiert werden, dass die zentrale Fragestellung auf den subjektiven bzw. objektivierbaren Nutzen oder Schaden abzielt, den Religion für die Gesundheit des einzelnen Menschen, von Gruppen oder für die sogenannte öffentliche Gesundheit haben kann. Die Aufzählung der Fachdisziplinen, die auch mit dem CfA angesprochen wurden, ist umfangreich: Medizingeschichte, Kulturgeschichte, Medizinethik, (Medizin-)Soziologie, Psychologie und Psycho­therapie, Religionswissenschaft, Pflegewissenschaft (insbesondere im Bereich
der Palliativmedizin), Medizinethnolo­gie sowie einzelne Spezialgebiete der
 Medizin (Epidemiologie und Umwelt­medizin, Sozialmedizin etc.) und vor allem die Gesundheitswissenschaften, auch Public Health genannt. Insbesondere auf dem Feld der Gesundheits­wissenschaften / Public Health, wo die öffentliche medizinische Versorgung und Prävention Gegenstand ist, stehen interdisziplinäre Fragestellungen im Fokus. Selbst juristische, ökonomische, gesellschafts- und sozialpolitische Positionen und Stellungnahmen sind gefragt, wenn die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Gesundheit, aber auch das Selbstbestimmungsrecht der Patient_innen, diskutiert wird.

Gegenstand der Studien sind oft die
positiven Aspekte der Wechselbezie­hungen von Religion und dem individuellen Wohlbefinden. Hier einen Per­spektivwechsel aufzuzeigen, ist eines der Anliegen des Doppelschwerpunkts. Die Ursachen – hin zu der Darstellung der positiven Zusammenhänge – können einerseits die persönlichen Ein­stellungen der Forscher_innen sein, aber auch die finanzielle Unterstützung bzw. Auftraggeberschaft von interessensgeleiteten Institutionen. Aber vielmehr spielt wohl das individuelle und das öffentliche Interesse an dem Thema eine Rolle. Denn ganz banal aus der Alltagserfahrung wissen wir, dass religiöse Lebensstile gesundheitsförderlich für die individuelle Gesundheit sein können: Alkohol-, Tabak- und Drogenabstinenz, religiös ritualisierte Hygiene, bestimmte Ernährungsregeln (beispielsweise Vegetarismus) etc. Aber abgesehen von religiösen Verboten zur Lebensverlängerung sind andere Fragen dieser Disziplinen für Konfessionslose spannender. Denn ebenso werden Fra­gen zum Gesundheitswesen in den Fokus genommen, dazu gehört die Untersuchung konfessioneller Ein­richtungen. Beispielsweise wenn wegen dogmatischer Auffassungen – wie Abtreibungsverbot – Frauen der Zugang zu lebensrettenden Maßnahmen erschwert oder gar verweigert wird.

Auch Sterbebegleitung ist ein weiterer Interessenschwerpunkt. Ein Teil­bereich dessen umfasst die Studien zu
sogenannten religiösen Coping-Strate­gien, also die Bewältigungsstrategien, die den Umgang religiöser und nicht­religiöser Menschen mit psychischen und chronischen Erkrankungen, Sterben
und Tod untersuchen. In diesen Studien wurden die verhaltensregulierende Funktion von Glauben und psychosozialen Einflüsse in den Blick genommen. Mit dem Ergebnis: Religiöse Bewältigungsstrategien haben individuellen Nutzen, sofern nicht ein strafendes Gottesbild vorliegt.
Eine weitere Ursache für das allgemeine Interesse an Fragen zur Gesundheitsvorsorge und Gesundheits­politik lässt sich auf die gesellschaftlichen Veränderungen beziehen. In globalisierten Gesellschaften müssen sowohl ethische und interkulturelle – also auch religiöse – Fragestellungen in die Gesundheitspolitik einfließen
als auch Recht(e) sowie Versorgungs­maßnahmen ausgehandelt werden. Beispielsweise steht die Impfdiskussion für individuelle und gruppenspezi­fische Interessenvertretung, in der eso
terische und religiöse Vorstellungen Einfluss auf die öffentliche Gesund­heitsversorgung nehmen. Zwischen individuellem Recht und gesellschaftlicher Verantwortlichkeit klafft ein tiefer Graben, weil hinter der Diskussion nicht nur offene Gesellschaften mit Meinungspluralität und Toleranz ge­genüber unterschiedlichen Lebensent­würfen stehen, sondern auch völlig unterschiedliche Gesundheits- und Krankheitskonzepte.

Denn zum einen sind nicht nur Gesundheit, die Vorstellung von Heil und Heilung sowie von Schul- und sog. Alternativmedizin abhängig von
den einzelnen Definitionen des Individuums, der Gruppe und der Gesell­schaft(en), sondern die Begriffe haben sich auch in der Geschichte und in unterschiedlichen Gesellschaftsformen und -systemen verändert. Und zum anderen ist ebenso das Verhältnis von Mediziner_in und Patient_in zeit- und kontextgebunden.

Glaube und Medizin waren historisch betrachtet über Jahrhunderte eng miteinander verwoben. Heilung und Heilserwartung galten als gleichbedeutend. Heiler hatten eine besondere Position im Sozialverband, denn viele meinten sie im Besitz von exklusivem, übermenschlich empfundenem Geheimwissen, welches zumeist in kultischen Handlungen angewandt, erlernt und weitergegeben wurde. Hippokrates schwört zunächst auf die Götter bevor er seine ärztliche Ethik formuliert. Xenodochien und Hospitäler gleichen in der Antike und durch das gesamte europäische Mittelalter hinweg eher Tempeln mit den jeweiligen Priestern, die vorzugsweise an der Pflege und dem Kurieren des Geistes durch religiöse Riten und Heilmethoden interessiert waren. Erst mit der Frühen Neuzeit – aus europäischer Perspektive betrachtet – und der Herausbildung der dualistischen Auffassung, dass Körper und Geist zwei voneinander zu trennende Dinge sind, löst sich die Medizin in einem Jahrhunderte andauernden Prozess von der Religion. Und die medizinwissenschaftliche Forschung übernimmt mit den technischen Errungenschaften sogar den Anspruch, allein Heilung ausüben und Gesundung (wieder-)herstellen zu können. Diese Betrachtungsweise wird heute in der Regel nicht mehr geteilt. Denn die Forschung weiß um Placebo-Effekte, körpereigene Selbstheilungsprozesse, psychosomati­sche und somatopsychologische Ein
flüsse auf menschliche Körper durch 
Krankheit(en) sowie Stress-Indizie­rung. Das heißt auch soziale, psychische, psychosoziale, familiäre, ökono­mische, ökologische u.a. Aspekte prägen nicht nur die Sicht auf Medizin und Gesundheit, sondern rücken den Fokus wieder auf das Verhältnis von Religion auf Gesundheit. In diesem Zuge trat auch mit dem Rückgang der Selbstüberschätzung des Behandelnden die Stärkung der Eigenverantwortung und Selbstbestimmung des Zubehan­delnden stärker auf die Agenda – mit allen ihren antagonistischen Konse­quenzen.

Denn Glaube kann auch krank machen, sprich ungesund sein: Einige dieser Aspekte thematisieren die Autor_innen dieser Ausgabe:

Rüdiger Vaas stellt Studien vor, die sich mit dem Zusammenhang von Religion und Religionszugehörigkeit in einzelnen Ländern und deren Zugang zu gesellschaftlichen und kulturellen Ressourcen (Bildung, Einkommen, Gesundheit, Lebensqualität) beschäftigten. Die Korrelationen fallen negativ für Gläubige aus: soziale, ökonomische und gesellschaftliche Ursachen von Armut und mitunter der Zusammenschluss in Glaubensgruppen (was auch immer Ausschluss für Nichtgläubige bedeutet) wirken sich nicht nur negativ auf die individuelle Gesundheit aus, sondern auch auf den Staat und sein Sozialwesen, namentlich auf den Sozial- bzw. Wohlfahrtsstaat und auf die Wahl der politischen Entscheidungsträger. Letzteres dürfte zudem nicht unerheblich die Gesundheitspolitik der Länder beeinträchtigen.

Aus medizinsoziologischer Sicht haben wir mit dem Call for Articles Beiträge zu den gesellschaftlichen Faktoren einwerben wollen. Eine der Antworten bezog sich auf den Fragenkomplex um den Zuwachs an spiritueller Sinn­gebung und Freizeitangeboten und der verstärkten ‘Reaktivierung’ von ‘Körper-Geist-Gesundheit’ / ‘Leib-und-
Seele-Idiom’ (Natur vs. Chemie). Und deshalb fühlt Dr. Britta P. Pelters dem gesellschaftlich gewandelten Ver­ständnis von Gesundheit auf den Zahn. Unversehrtheit respektive ‘Gesundsein’ beschreibt sie als Forschrittsnarrativ einer vom Gesundheitswahn besessenen Gesellschaft. Die Feststellung dieses tief religiösen Zuges bzw. der Vergleich struktureller Ähnlichkeiten zu monotheistischen Religionen führt die Autorin sogar zum provokanten Ausblick, ob das wissenschaftliche Glaubenssystem ‘Medizin’ tatsächlich ‘Religion und Wissenschaft’ zu trennen vermag. Zum Nachdenken regt an, dass das Konzept ‘Gesundheitsgesellschaft’ unter dem Schleier der Suggestion von selbstbestimmten Verhalten doch allein den Zwang zur Selbstverwirklichung, zur (Selbst-)Kontrolle und das vermeintlichen Einverständnis zur Schick­salsprädestination verbirgt. Nicht we
niger erschreckend daran ist: Die ‘Ge­sundheitsgemeinschaft’ schließt mit Hilfe von Ritualen, Symboliken und Zugangsbeschränkungen andere Men­schen, die nicht diesen Glauben pflegen wollen oder sogar können, dezidiert aus.

Dieser Aspekt lenkt den Blick auf einen weiteren, nicht unumstrittenen Bereich der medizinischen Forschung – das Enhancement: die Verbesserung und Leistungssteigerung des menschlichen Körpers. Denn je intensiver die Beschäftigung mit dem Postulat der körperlichen Unzulänglichkeit und der Optimierung desto gering geschätzter das Vertrauen in die eigenen psychischen Stärken und Schwächen. Das Dilemma dieser Betrachtung der Welt beschreibt Prof. Dr. Bertram Szagun in seinem Beitrag über die Demut. Die Frage, ob nun religiöser Glaube gesünder macht, gerät in den Hintergrund, zugunsten der Frage, wie der Zusammenhang von klaglosem ‘Sich-fügen’ oder von Demut auf die Einschätzung des Selbst und damit des Gesundheitsempfindens wirkt. Er nimmt sich dem Thema der Selbstwahrnehmung an und eröffnet die Diskussion um den psychosozialen Nutzen narzisstischer und demütiger Züge bei der Selbstab- oder Selbstaufwertung – also dem unbe
dingten bzw. dem bedingten Glauben
an sich selbst und die eigenen Fähig­keiten. Mit seiner These schlägt er
‘Ungläubigen’ vor, wie ein ‘gesunder
Weg’ aus der Misere der sog. ‘Zivilisa­tionskrankheiten’ wie Depression, Diabetes, Herzinfarkt etc. eingeschlagen werden kann.

Anmerkung:

1 Siehe http://miz-online.de/node/419 (Zugriff 27.12.2014).