Prisma | Veröffentlicht in MIZ 3/15 | Geschrieben von Thomas Waschke

Evolution vor Gericht – eine unendliche Geschichte in den USA?

In diesem Jahr jähren sich zwei Prozesse, die nicht nur in den USA enormes Aufsehen erregten: Der schon vor seiner Eröffnung als „Jahrhundert-Prozess“ bezeichnete „Affenprozess“ in Dayton (formal „Tennessee v. John Thomas Scopes, No. 5232“) 1925 und ein Prozess, der 2005 in Dover stattfand und oft als „Scopes II“
bezeichnet wurde (formal „Kitzmiller v. Dover Area School District et al.“). Diese beiden öffentlichkeitswirksamen Prozesse bilden sozusagen eine Klammer um viele ähnliche juristische Auseinandersetzungen.

In diesem Beitrag wird geschildert, wie es zum Scopes-Prozess kam, in einem weiteren Beitrag werden die Auswirkung dieses Prozesses auf die Diskussion über Evolution und Schule in den USA und die aktuelle Situation betrachtet.

Was ist in Dayton passiert?

Die reinen Fakten sind unspektakulär: Aufgrund eines kurz zuvor erlassenen Gesetzes, nach dem es verboten war, im Unterricht zu lehren, was den Inhalten der Bibel widerspricht, speziell, dass der Mensch nicht-menschliche Vorfahren hatte, wurde John Scopes, ein Lehrer, der einräumte, Evolution unterrichtet zu haben, nach einem Prozess, der acht Verhandlungstage (10.-21.7.1925) dauerte, zur Mindeststrafe von 100 Dollar verurteilt, was mehr als dem Monatslohn eines Lehrers entsprach.

Ein derartiger Prozess wäre aber wohl selbst in der unmittelbaren Umgebung kaum in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt. Die Vorgänge rund um den Prozess rechtfertigen eine Einschätzung als „Jahrhundert-Prozess“ hingegen zweifellos. Zur Zeit des Prozesses herrschte in Dayton Jahrmarktstimmung, bis zu 5000 Menschen befanden sich in dem Ort, der 1800 Einwohner zählte. Die meisten davon waren verreist, um ihre Häuser zu vermieten. Über 100 Reporter waren anwesend, die über zwei Millionen Wörter publizierten, via Fernschreiber wurden mehr Wörter nach Europa und Australien gesendet als zu irgendeinem Ereignis in den USA zuvor. Der Prozess wurde als erster überhaupt USA-weit live im Rundfunk übertragen, täglich brachten Flugzeuge Filmrollen für die Wochenschauen in die großen Städte.

Wie konnte ein inhaltlich unbedeutender Prozess derartige Aufmerksamkeit erregen?

Selbstverständlich war auf der einen Seite die Thematik bedeutsam: Es ging um Evolution. Warum dieses Thema, das seit Jahrzehnten in den Universitäten und Schulen behandelt wurde, ohne dass es größere Kontroversen auslöste, in den 1920er Jahren enorm an Bedeutung gewann, hat viele Gründe. Zumindest zwei beruhten auf Ereignissen in Europa. Auf der einen Seite bewirkte der Erste Weltkrieg einen Schock, weil als zivilisiert betrachtete Staaten sich grausam auf eine Art und Weise, die zuvor unvorstellbar war, bekriegten. Es wurde bekannt, dass Offiziere der Deutschen Wehrmacht Gräueltaten, vor allem in Belgien, sozialdarwinistisch rechtfertigten, was dazu führte, dass der Evolutionstheorie negative moralische Auswirkungen zugeschrieben wurden.

Erfahrungen des Weltkrieges führten zu einem Bedürfnis nach Sicherheit und festen Werten, die vor allem in den ländlich strukturieren Südstaaten in der Bibel gesehen wurden. Zu Beginn des Jahrhunderts kam die höhere Bibelkritik, nach der die Bibel ein literarisches Werk ist, das interpretiert werden muss, nach Amerika und löste einen erbitterten Streit aus. Als eine Reaktion erschien eine Aufsatzsammlung mit dem Namen The Fundamentals, in der die Grundlagen eines konservativen, an einer textnahen Auffassung der Bibel orientierten, Christentums zusammengefasst wurden. Anhänger dieser Auffassung der Bibel als in allen Punkten irrtumslos nannten sich „Fundamentalisten“.

elbstverständlich war für diese Menschen eine Evolution des Menschen aus nicht-menschlichen Vorfahren unvorstellbar. Der Mensch wurde als direktes Geschöpf eines Gottes betrachtet, das sich nach seinem Tode vor diesem Gott rechtfertigen muss, worauf letztlich die ganze Moral gründet. Evolution war aus dieser abzulehnen, weil sie die Irrtumslosigkeit der Bibel infrage stellt und daher letztlich die Moral gefährdet.

Ein weiterer Punkt war der Bil­dungsboom, der dazu führte, dass sich die Zahl der Schüler, die höhere Schulen besuchten, vor allem in ländlichen Gebieten vervielfachte. Da Evolution nur in höheren Jahrgangsstufen unterrichtet wurde, kamen nun viel mehr Eltern über die Schulbücher ihrer Kinder mit diesem Thema in Kontakt. Der Biologieunterricht befand sich zudem in einem Umbruch. Zunächst gab es kein Fach Biologie, unterrichtet wurden Zoologie und Botanik als getrennte Disziplinen. Anfang der 1900er Jahre kam, beispielsweise mit Hunters A Civic Biology: Presented in Problems, ein vollkommen neuer Ansatz zum Tragen. Wie der Titel schon angibt, wird der Stoff problemorientiert vermittelt. Für die Eltern, vor allem in den ländlichen Gebieten, war aber der Hintergrund, der mit Civic Biology gekennzeichnet war, nicht akzeptabel: Es ging darum, Großstadtkinder auf ihre Zukunft vorzubereiten. Dieser Lebensentwurf unterschied sich grundlegend von den konservativen Vorstellungen vieler Eltern.

Ein hochrangiger Artikel in der amerikanischen Verfassung verbietet das Unterrichten religiöser Inhalte an öffentlichen Schulen. Es gab daher keine Möglichkeit, beispielsweise durch Religionsunterricht ein Gegengewicht zu Evolution zu schaffen. Der einzige Ausweg bestand zunächst darin, zu verhindern, dass Evolution überhaupt gelehrt wurde. Letztlich ging es darum, ob die Eltern durch die Wahl einer entsprechenden Regierung erreichen konnten, dass ihre Werte durch die Stoffauswahl in der Schule respektiert wurden. Das führte zu Versuchen, die Behandlung von bestimmten Themen, vor allem, dass der Mensch von nicht-menschlichen Vorfahren abstammt, zu verbieten. Tennessee war der erste Bundesstaat, der 1925 mit dem Butler-Act (benannt nach dem Abgeordneten, der es einbrachte) ein derartiges Gesetz eingeführt hatte. Andere Bundesstaaten im Süden folgten.

Mindestens genauso wichtig waren die Personen, die aufeinandertrafen. Auf Seiten der Anklage war das William Jennings Bryan, der als bester Redner der USA galt und seit 1922 einen viel beachteten Kreuzzug gegen Evolution führte. Letztlich verursachte Bryan, dass Evolution zu einem Reizthema wurde, weil er viele Probleme der modernen Gesellschaft darauf zurückführte, dass durch diese Lehre die christlichen Werte untergraben würden. Indirekt war Bryan auch für den Butler-Act verantwortlich, weil Butler ein Redemanuskript Bryans erhielt, als dieser in der Nähe von Dayton vortrug. Bryans Gegenspieler war Clarence Seward Darrow, der bekannteste Strafverteidiger der USA, ein bekennender Agnostiker. Letztlich verkörperten diese beiden Giganten die gesellschaftlichen Strömungen, die den Hintergrund des Prozesses bildeten und auf die im zweiten Teil des Beitrags näher eingegangen wird.

Der Prozess an sich war ein abgekartetes Spiel, das auf maximale öffentliche Aufmerksamkeit ausgelegt war. Die ACLU, eine amerikanische Bürgerrechts-Organisation, sah die Chance, auf ihre Ziele aufmerksam zu machen und suchte per Zeitungsanzeige einen Lehrer, der bereit war, gegen dieses Gesetz zu handeln und bot juristische Unterstützung an. Aus Sicht der ACLU verstieß das Gesetz gegen das Grundrecht der Lehrer auf freie Rede. Die Honoratioren von Dayton, eines schrumpfenden Städtchens, das seine Glanzzeiten als Kohle- und Stahl-Produzent lange hinter sich hatte, sahen in einem derartigen Prozess die Chance, den Ort bekannt zu machen und hofften auf eine große Zukunft. Daher suchten sie einen Lehrer, der bereit war, das Gesetz zu brechen und fanden in dem jungen John Scopes einen geeigneten Kandidaten. Scopes war zwar als Trainer für die Sportmannschaften der Schule angestellt, unterrichtete allgemeine Naturwissenschaften und hatte nur kurz den krankheitsbedingt ausgefallenen Biologie-Lehrer vertreten. Scopes erklärte sich aber bereit, zu behaupten, er habe Evolution unterrichtet, weil er das oben erwähnte Lehrbuch von Hunter, das ein Kapitel über Evolution enthielt, zur Vorbereitung der Schüler auf die Abschlussprüfung verwendet habe.

Die Strategien der beiden Parteien

Der Prozess erfüllte in weiten Teilen die Erwartungen des Publikums, denn wie erwartet hielten Darrow und Bryan große Reden. Der Prozess war aber vor allem von taktischen Überlegungen geleitet.

Die Strategie der Verteidigung war offensichtlich: Es ging darum, einen Schuldspruch zu erreichen, um dann über den Instanzenweg das Gesetz zu Fall zu bringen. Das sollte letztlich dadurch erreicht werden, dass gezeigt wird, dass Evolution und Christentum keine Gegensätze sind. Zu diesem Zweck hatte die Verteidigung Zeugen gesucht und gefunden, die auf der einen Seite als anerkannte Naturwissenschaftler bezeugen konnten, dass Evolution wissenschaftlich begründet und anerkannt ist, auf der anderen Seite aber als überzeugte Christen in einer (theistischen) Evolution kein Problem für ihren Glauben sahen. Als weitere Argumente gegen das Gesetz sollten die verfassungsmäßig garantierte Freiheit der Rede (und damit auch Lehre), die dem Lehrer gestattet, Unterrichtsinhalte auszuwählen, und die Rechte der Schüler, den Stand der Wissenschaft kennenzulernen, angeführt werden. Letztlich hatte die Verteidigung noch das Argument, dass durch den Bezug zur biblischen Botschaft unzulässigerweise eine bestimmte Religion, eben das Christentum, bevorzugt werde.

Bryan als Vertreter der Anklage überließ die Details der Prozessführung seinen Kollegen, da er seit über 30 Jahren an keinem Prozess mehr beteiligt war. Seine Aufgabe war die Kontaktaufnahme mit potenziellen Zeugen und die grundlegende Strategie. Bryan plante, den Prozess für seine Kampagne gegen Evolution zu nutzen und vor allem auch zu zeigen, dass Evolution fachwissenschaftlich widerlegt ist. Er musste aber bald feststellen, dass er keine geeigneten Wissenschaftler finden konnte, während die Liste der Zeugen der Verteidigung immer länger wurde. Daher änderte er notgedrungen seine Strategie: Es sollte nur noch formal darum gehen, dass ein Lehrer gegen ein Gesetz verstoßen hatte. Das Gesetz an sich durfte nicht hinterfragt werden, die Fakten waren klar, ein kurzer Prozess war zu erwarten. Die eigentliche Agitation gegen Evolution sollte seinem Schlussplädoyer vorbehalten bleiben, an dem er seit Wochen arbeitete.

Der Verlauf des Prozesses

Der Prozess begann am Freitag, dem 10.7.1925, mit einem Gebet. Obwohl die Verteidigung mehrfach beantragte, dass die Gebete unterbleiben sollten, ordnete der Richter diese an. Schon dieses Detail zeigte, dass der Richter parteiisch war. Eine Analyse seiner Entscheidungen ergab, dass er zwar auch Anträgen der Verteidigung stattgab, letztlich aber in allen wichtigen Punkten der Anklage folgte. Immerhin wechselten sich fundamentalistisch
und modernistisch eingestellte Geist­liche ab. Am ersten Prozesstag wurden vor allem die Geschworenen ausgesucht.

Die meiste Zeit der folgenden Pro
zesswoche nahmen Verfahrensfragen ein. Letztlich ging es darum, ob die von der Verteidigung vorgesehenen Experten befragt werden sollten. Nachdem der Richter diesen Antrag am Freitag dann abgelehnt hatte und, nicht ganz konsequent, als eine Art Kompromiss das Verlesen von Auszügen aus Gutachten, die diese Zeugen über das zweite Wochenende zu erstellen hatten, vorschlug, war der Prozess eigentlich gelaufen. Durch Zeugen der Anklage, darunter zwei Schüler von Scopes, die er vorher gebeten hatte, zu bestätigen, dass er Evolution unterrichtet hatte, war zweifelsfrei bestätigt, dass Scopes das Gesetz übertreten hatte. Ein Schuldspruch war zu erwarten, viele Reporter reisten am Wochenende ab.

Am Montag nahm der Prozess nach dem Verlesen der Expertisen einen unerwarteten Verlauf. Aufgrund der Hitze und weil zu befürchten war, dass die Statik des Gebäudes durch die Masse der Zuschauer gefährdet sei, wurde die Sitzung am Nachmittag ins Freie verlegt. Darrow forderte Bryan auf, sich als Zeuge für die Inhalte der Bibel befragen zu lassen. Entgegen der Ratschläge seiner Kollegen willigte Bryan ein, unter der Bedingung, dass er die Anwälte der Verteidigung ebenfalls befragen dürfte und vor allem, weil er Zeugnis für seinen Glauben geben wollte. Die folgende Befragung endete für Bryan in einem Fiasko: Darrow zwang ihn durch trickreiche Fragen (beispielsweise „Welche Frau konnte Kain heiraten?“ oder „Lief die Schlange vor der Verfluchung auf der Schwanzspitze?“), einzuräumen, dass man die Bibel interpretieren müsse. Das war genau der Punkt, auf den es der Verteidigung ankam: Theistische Evolution basiert auf eben dieser Möglichkeit, die aber von Fundamentalisten, zu denen Bryan gezählt wurde, ausgeschlossen wird. Eines der wichtigsten Zugeständnisse Bryans bestand zudem darin, dass er „Tag“ in der Genesis auch als langen Zeitraum akzeptierte, also nicht davon ausging, dass die Erde jung war. Als Darrow Bryan zu sehr in die Enge trieb, beendete der Richter die Sitzung. Diese Befragung, bei der 3000 Zuschauer anwesend waren, machte den Prozess letztlich zum Jahrhundert-Prozess.

Am folgenden Dienstag erklärte der Richter, dass die Aussage Bryans beendet sei und zudem aus dem Protokoll gestrichen würde, da sie nichts mit dem Prozess zu tun habe. Darrow zog nun sein As aus dem Ärmel: Er erklärte den Angeklagten für schuldig und bat die Jury um einen Schuldspruch. Damit war der Prozess zu Ende und Darrow hatte alles erreicht, was er noch erreichen konnte. Durch den Schuldspruch wurde eine Berufung möglich und Bryan konnte weder die Anwälte befragen noch seine große Rede halten.

Der Rest war Formsache: Die Jury trat zusammen und sprach Scopes nach nur neun Minuten Beratung schuldig. Nach Absprache mit der Jury, der Verteidigung und der Anklage verhängte der Richter die Mindeststrafe von 100 Dollar. Damit endete der Prozess am 21.7.1925.

Wer nun letztlich den Prozess gewonnen hatte ist umstritten. Die Anklage konnte für sich verbuchen, dass der Angeklagte schuldig gesprochen wurde und dass das Gesetz nicht angetastet wurde. Die Verteidigung hingegen hatte große Teile der Öffentlichkeit, vor allem der Nordstaaten, hinter sich, die davon ausging, dass der Fundamentalismus seine Zeit gehabt habe. Zudem wurden Evolutionsgegner in der Presse mit viel Spott bedacht, was dazu führte, dass es schwer wurde, derartige Gesetze einzubringen, weil immer befürchtet werden musste, das Ansehen des Staates zu schädigen.

Hoffnungen, dass nun Evolution in den Schulen gelehrt werden könne, erfüllten sich aber nicht. Bryan, der an Diabetes litt, starb nach einem opulenten Mittagessen wenige Tage nach dem Prozess friedlich im Schlaf. Das führte zwar dazu, dass sein Kreuzzug gegen Evolution im Sande verlief, weil es niemanden gab, der in der Lage war, den Einsatz seiner Person zu ersetzen. Die Schulbuchverlage waren aber alarmiert: Evolution war offensichtlich ein umstrittenes Thema, daher bot es sich an, die Schulbücher entsprechend umzuschreiben. Letztlich enthielten die Schulbücher nach dem Scopes-Prozess weniger Evolution als vorher. Die Gesetze in verschiedenen Bundesstaaten, die Evolution im Unterricht verboten, blieben allesamt bestehen.