Prisma | Veröffentlicht in MIZ 3/17 | Geschrieben von Rüdiger Vaas

Die Misere des Glaubens

Religion ist kein himmlisches Mysterium, sondern ein sehr dies­seitiges Phänomen. Wissenschaftler verstehen es immer besser, die irdischen Wurzeln der Religiosität auszugraben – mit teils verblüffenden Resultaten. Neben biologischen und sozialen und gesellschaftlichen Befunden sind es die abgründigen, dunklen Tiefen der menschlichen Psyche, die den philosophisch mehr oder weniger aberwitzigen und irrationalen Hang zu vermeintlich über- oder hinterirdischen Anhaftungen bedingen. So kommen Zusammenhänge zwischen Religiosität, Autoritätsgläubigkeit und Ängsten ans Licht.

An welche Religion man glaubt, hängt stark von der familiären Umwelt ab sowie dem sozialen Umfeld im späteren Leben. Die Erbsubstanz ist dabei irrelevant – es gibt kein Islam- oder Buddhismus-Gen. Religiosität hingegen ist ein Persönlichkeitsmerkmal – genauer: ein Merkmalsbündel –, das sich wie alle anderen Charakterzüge im Wechselspiel der Gene eines Individuums, seiner Entwicklung sowie seiner Umwelt ausprägt. Den erblichen Einfluss belegen Zwillingsstudien. An der University of Minnesota in Minneapolis haben Forscher um den Genetiker Thomas Bouchard ein reiches Datenmaterial von Zwillingen zusammengetragen, die kurz nach der Geburt voneinander getrennt wurden und in sehr ähnlichen oder aber völlig verschiedenen Umgebungen aufwuchsen, bis sie sich Jahrzehnte später wieder trafen. Persönlichkeitstests ergaben, dass sich alle Charaktermerkmale unabhängig vom Umwelteinfluss ziemlich stark ähnelten. Das gilt besonders auch für die Autoritätsgläubigkeit. Religiosität kann als eine Folge davon verstanden werden – ist also ein Nebeneffekt. Autoritätsgläubigkeit zeigt sich in vielen Facetten. Bouchard und seine Kollegen sprechen von einer „Traditional Moral Values Triad“. In dieser Triade traditioneller Werte sind Religiosität, Konservatismus und Auto­ritarismus eng miteinander verbunden: – Autoritarismus betrifft die Organisation der Familie und besagt beispielsweise, dass Autoritäten gehorcht werden soll und Kinder diesen Respekt als wichtige Tugend zu lernen haben. – Konservatismus betrifft die Organisation der Gesellschaft und geht oft einher mit der Ablehnung von Abtreibung und Homosexualität, der Befürwortung der Todesstrafe sowie der Wertschätzung von Institutionen, etwa politischen Parteien, Kirchen, Regierungen und der Familie. – Religiosität betrifft das Verständnis von der „Organisation“ der Natur und wird als Sinngebung erfahren. Hier spielen angeborene Denkmuster eine Rolle, darunter das Bestreben nach dem Finden – oder Erfinden – von Ursachen. Menschen können mehr oder weniger gut mit Unsicherheit umgehen. Autoritätsgläubigere neigen dazu, sie abzustreiten und in einen übergreifenden Sinn einzuordnen – sei es in die höhere „Ordnung“ von König, Nation, Rasse, Glaubensgemeinschaft oder Gott. Jeder Mensch hat ein bestimmtes Maß an Autoritätsgläubigkeit, also eine mehr oder weniger starke Ausprägung dieser „Traditional Moral Values Triad“. Wer Religiosität, Konservatismus und Autoritarismus stärker zugeneigt ist, wird beispielsweise Pietismus, Kreationismus, Monotheismus, Legalismus eher zustimmen und Naturalismus, Hedonismus, Liberalismus, Existen­zialismus, Säkularismus, Atheismus, Evolution, Humanitarismus und Pazifismus eher ablehnen, ergaben repräsentative Studien, die Gerard Saucier, Professor für Psychologie an der Uni­versity of Oregon in Eugene, ausgewertet hat. Die Autoritätsgläubigkeit steht auch mit anderen Faktoren in Zusammenhang, sagt Bouchard. Sie korreliert statistisch mit einer geringeren Intelligenz und geringeren Bildung und nimmt mit dem Alter oft zu. Wer Kinder hat, wird ebenfalls tendenziell religiöser, konservativer und autoritärer – auch dann, wenn er eine höhere Bildung besitzt. Das hat vermutlich mit dem Streben nach Sicherheit zu tun. Die Zwillingsstudien zeigen, dass diese Triade eine beträchtliche erbliche Grundlage besitzt – einen genetischen Anteil von 40 bis 60 Prozent. „Das ist ein enormer erblicher Einfluss“, betont Bouchard. Außerdem ist das Maß an Autoritätsgläubigkeit ein wichtiges Kriterium bei der Partnerwahl. (Intelligenz und andere Faktoren spielen eine geringere Rolle; nur das Alter hat einen größeren Stellenwert.) Dass religiöse Menschen sich generell stärker Autoritäten unterordnen, weltlichen wie religiösen, ergab eine Studie von Psychologen um Daniel C. Wisneski von der University of Illinois in Chicago. Sie haben über 700 US-Amerikaner mit einem moralischen Dilemma konfrontiert (aktive Sterbehilfe) und dabei herausgefunden, dass die Befragten umso wahrscheinlicher dem Urteil einer ausgewiesenen Autorität zustimmten, je religiöser sie waren. (Das gilt nicht nur für religiöse, sondern auch für säkulare Instanzen, etwa den Obersten Gerichtshof.) Menschen mit starken moralischen Überzeugungen hingegen urteilten unabhängig von solchen Autoritäten. Beide Gruppen – die nichtreligiösen, und überdurchschnittlich moralisch eingestellten Menschen wie auch die religiösen – beantworteten die Fragen der Psychologen allerdings wesentlich schneller als nicht oder weniger moralisch eingestellte und/oder religiöse Personen. Daraus schließen die Forscher, dass die besonders starken Urteile weniger rational als emotional gefällt werden. Das steht im Einklang mit Befunden aus der Hirnforschung.

Mit Gott gegen die Angst

Generell sind Menschen mit einer stärker ausgeprägten Autoritätsgläubigkeit ängstlicher. Das zeigen viele Studien. Eine besonders ausgefeilte haben Politikwissenschaftler und Psychologen um Douglas Oxley von der University of Nebraska-Lincoln publiziert. Sie maßen physiologische Angst-Indikatoren und stellten fest, dass sie bei Menschen besonders stark ausgeprägt waren, die beispielsweise Patriotismus, die Todesstrafe, höhere Militärausgaben sowie damals den Irak-Krieg vehement befürworteten. Auch sind Menschen, die Religion für wichtig halten, in ihrem Charakter meist ängstlicher. Das ergaben Untersuchungen von 400 australischen Studenten, die Chris Jackson von der University of Queensland in Brisbane und Leslie Francis von der University of Wales im britischen Bangor psychologisch getestet hatten. Zu diesem Ergebnis passen Experi­mente von Thomas Pyszczynski an der University of Colorado und Abdol­hossein Abdollahi von der Islamischen Azad-Universität im iranischen Kerman: Sie brachten Menschen in Situationen, in denen sie sich ängstlicher oder einsamer fühlen – und prompt stieg deren Zustimmung zu religiösen Aussagen bis hin zu Märtyrer-Aktionen. Auch höhere Militärausgaben befürworteten sie nun eher. Die durchschnittlich größere Ängstlichkeit religiöser Menschen widerspricht nicht dem Befund, dass sie hoffnungsvoller sind, sondern erklärt ihn vielmehr: Ein „fester Glaube“ ist eine Art Bollwerk gegen die psychischen Unsicherheiten. Er kompensiert oder unterdrückt oder überwindet sie. Außerdem besteht ein enger Zu­sammenhang zwischen der Stärke des Gefühls, sein Leben selbst kontrollieren zu können, und der Wertschätzung höherer Autoritäten – etwa einer als wohlwollend empfundenen Regierung, aber auch von Gott. Das wiesen Kristin Laurin und Aaron C. Kay von der University of Waterloo in Kanada mit einer ganzen Serie von Studien nach. Ihre wichtigsten Resultate: – Menschen, die nicht glauben, ihr Leben selbst bestimmen zu können und daher ängstlicher sind als ihre autonomeren Zeitgenossen, suchen äußere Unterstützung, um ihre Angst zu reduzieren: etwa religiöse oder politische Ideologien. – Menschen, die das Gefühl haben, ihr Leben schlecht kontrollieren zu können, neigen stärker dazu, von der Regierung zu fordern, dass sie mehr Verantwortung übernehmen soll. Vertrauen sie ihrer Regierung jedoch weniger, glauben sie eher, ihr Leben selbst bestimmen zu können. Das ergab eine Auswertung des World Values Survey. – Suggeriert man Versuchspersonen in Experimenten einen Kontrollverlust, tendieren sie dazu, gläubiger zu sein – aber nur, wenn sie sich den Gott als sehr mächtig vorstellen, als Lenker der Dinge. Und sie widersetzten sich stärker der Vorstellung, dass das Universum ein Zufallsprodukt ist. – Bekamen Versuchspersonen die Aufgabe, am Computer durch Tastendruck einen grünen Kreis auf dem Monitor erscheinen zu lassen, waren sie häufiger überzeugt, dies tun zu können, wenn man ihnen zuvor ein Video gezeigt hatte, das ihre Regierung als unfähig darstellte. Und das, obwohl die Versuchspersonen tatsächlich keinerlei Einfluss auf den Kreis hatten. – In einem weiteren Experiment sollten sich die Versuchspersonen vorstellen, dass sie nachts allein zuhause sind und ein Einbrecher in die Wohnung eindringt. In der Hälfte der Fälle konnten sie die Polizei rufen, also etwas tun, in der anderen kamen die Polizisten zufällig vorbei. Dann wurde der Grad der Religiosität der Personen erfragt. Ergebnis: Jene, die sich ohne eigenes Eingreifen stark ängstigten, waren religiöser als die, die weniger Furcht verspürten. Beim anderen Ausgang der Geschichte zeigte sich kein Unterschied. Fazit: Ängstlichkeit, Kontrollverlust und Autoritätsgläubigkeit hängen eng miteinander zusammen. Das nützen die Adepten der religiösen Heilsversprechen aus und suggerieren sich und anderen große Hoffnungen und wundersame Wirkmittel. Es sind die Kehrseiten großer Ängste und eine metaphysische Drückebergerei vor dem Absurden.

Literaturhinweise

Warum Menschen glauben. In: bild der wissenschaft, Nr. 1, S. 52-69 (2010) Göttliche Gesellschaften. In: bild der wissenschaft, Nr. 1, S. 58-65 (2013)
Die neue Schöpfungsgeschichte Gottes – Heraus­forderungen einer Evolutionsbiologie der Religiosität. In: Fink, H. (Hrsg.): Die Frucht­barkeit der Evolution. Alibri: Aschaffenburg 2013, S. 133-172
Warum der Glaube meistens schadet. In: MIZ 4/14, S. 5-10 Horror im Hirn. Neurobiologie und Psychologie von Angst und Furcht. Universitas, Bd. 70, Nr. 826, S. 4-34 (4/2015)
Himmlische Nöte – das Elend durch Religion. Universitas, Bd. 71, Nr. 846, S. 28-49 (12/2016)