Prisma | Veröffentlicht in MIZ 4/15 | Geschrieben von Thomas Waschke

Der Weg zum Dover-Prozess

Der Prozess über den Versuch, in Dover Intelligent Design in den Biologie-Unterricht einzubringen, bildet den vorläufigen Abschluss des gerichtlichen Streits über Evolution und Schöpfung an öffentlichen Schulen in den USA. Um die Bedeutung dieses Prozesses zu verstehen, ist es sinnvoll, die Entwicklung seit dem Scopes-Prozess (siehe dazu MIZ 3/15) kurz zu untersuchen. In diesem Prozess hatte ein Lehrer absichtlich ein Gesetz, das die Behandlung der Evolution des Menschen im Unterricht verbot, übertreten, um letztlich dieses Gesetz zu Fall zu bringen.

Der Scopes-Prozess hatte zwar enor­mes Aufsehen erregt, führte aber letztlich nicht zu der erhofften Ver­änderung der rechtlichen Situation. Die Verteidigung ging zwar in Revision, aber dieser Schritt erwies sich als Desaster. Das Berufungsgericht wies die Revision nicht nur in allen Punkten inhaltlich zurück. Schlimmer noch: Es hob das Urteil nicht nur auf, sondern erklärte es als ungültig und lehnte einen neuen Prozess ab. Damit war eine weitere Revision ausgeschlossen und die Strategie der Verteidigung war gescheitert.

In den folgenden Jahrzehnten kam es de facto zu einer Art Burgfrieden, ohne dass sich an den grundlegenden Problemen der amerikanischen Gesellschaft etwas geändert hätte. Da die Schulbuchverlage das Thema Evolution nur noch am Rande aufgriffen, bestand auf der einen Seite für die Evolutionsgegner kein direkter Handlungsbedarf, denn die meisten Lehrer vermieden es, das Thema Evolution zu behandeln. Auf der anderen Seite gab es zwar in mehreren Bundesstaaten Verbote, die Evolution des Menschen in der Schule zu unterrichten, Verstöße wurden aber zumindest nicht mehr gerichtlich verfolgt.

Die Situation änderte sich dramatisch in den 1960er Jahren. 1957 schoss die UdSSR mit dem Sputnik den ersten Satelliten ins All, was den USA deutlich machte, dass sie Gefahr liefen, technologisch ins Hintertreffen zu geraten. Das stellte in Anbetracht des Kalten Krieges ein enormes Problem dar. Als Reaktion wurde eine Bildungsoffensive vor allem im Bereich der Naturwissenschaften gestartet, in deren Rahmen auch neue Lehrpläne mit entsprechenden neuen Schulbüchern erarbeitet wurden. Im Bereich der Biologie erhielt Evolution so wieder den in den Fachwissenschaften üblichen hohen Stellenwert: Sie galt als einigende Klammer nicht nur der Biologie. Zudem fanden 1959 in Chicago die Darwin-Feiern zum 100. Jahrestag des Erscheinens seines Buchs Über die Entstehung der Arten statt, die das Thema Evolution in den Blickpunkt der Öffentlichkeit katapultierten.

Als Gegenreaktion auf diese Ent
wicklungen schrieben der Wasserbau­ingenieur Morris und der Theologe Whitcomb mit The Genesis Flood ein Buch, das den ‘scientific creationism’ begründete und es schaffte, die zerstrittenen Evolutionsgegner zu einigen. Diese Lehre wird auch als ‘Kurzzeit-Kreationismus’ bezeichnet, weil deren zentrales Element die Auffassung darstellt, dass die Erde maximal wenige 1000 Jahre alt sei. Letztlich geht diese Position davon aus, dass die Bibel ein historisches und naturwissenschaftliches Lehrbuch darstellt, auf deren Basis eine echte Schöpfungswissenschaft betrieben werden kann. Morris gründete auch das Institute for Creation Research (ICR) in Dallas, im Laufe der Zeit entstanden noch weitere kurzzeit-kreationistisch orientierte Organisationen.

Unabhängig davon gab es im Alltag der Schulen eine schizophrene Situation. Die Einführung der neuen Schulbücher, vom Dienstherrn angeschafft und zwingend im Unterricht zu verwenden, brachte für Lehrer ein Problem mit sich: Wenn sie diese im Unterricht verwendeten, verstießen sie gegen Gesetze und riskierten ihre Entlassung. Susan Epperson, eine Lehrerin in Little Rock, erreichte schließlich das, was Scopes nicht gelang: Gesetze, die Evolution im Unterricht verbieten, mussten aufgehoben werden. Epperson siegte vor dem obersten Gerichtshof (Epperson vs. Arkansas, Urteil 1968), der feststellte, dass die Verbote, Evolution zu unterrichten, gegen die Verfassung verstießen, weil sie unzulässigerweise eine Religion bevorzugten.

Die Evolutionsgegner mussten daher ihre Strategie ändern. Bislang forderten diese nur eine Art ‘negative’ Chancengleichheit ein. Da Schöpfung nicht an Schulen gelehrt werden durfte, sollte auch Evolution nicht behandelt werden. Das war nach dem Epperson-Urteil nicht mehr möglich. Nun gab es aber in Form des ‘scientific creationism’ eine ausformulierte Schöpfungslehre, die den Anspruch erhob, mit den Methoden der Naturwissenschaften die Inhalte der Bibel zu bestätigen. Mehrere Bundesstaaten führten daher Gesetze ein, welche die Schulen dazu zwingen sollten, in dem gleichen zeitlichen Umfang, der dem Unterricht in Evolution eingeräumt wurde, auch Schöpfungswissenschaft zu lehren (‘equal time’). Selbstverständlich klagte die ACLU gegen eines dieser Gesetze und es kam in Arkansas zu dem Prozess in Little Rock, der als ‘Scopes II’ bezeichnet wurde.

Dieser Prozess (McLean vs. Arkan­sas, Urteil 1982) erregte enormes Aufsehen und unterschied sich von allen bisher geführten Prozessen, in denen um Evolution an öffentlichen Schulen gestritten wurde. Zum ersten Mal wurde nicht nur formal durch Juristen über Gesetze, also den rechtlichen Rahmen, verhandelt, sondern es wurden fachwissenschaftliche Argu­mente in den Vordergrund gestellt. Der Richter im Scopes-Prozess hatte genau das abgelehnt. Beide Seiten brachten Wissenschaftler in den Zeugenstand, die beurteilen sollten, ob der Kurzzeit-Kreationismus den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben konnte. Nur in diesem Fall durfte er an öffentlichen Schulen gelehrt werden, denn es würde sich dann im Kern um eine Naturwissenschaft handeln, deren Bezug zu einer Religion eher zufällig wäre.

Letztlich siegten die Evolutions­befürworter auf der ganzen Linie, denn die zentralen Punkte des ‘scientific creationism’ (zu denen eine junge Erde, eine weltweite Sintflut zu einer Zeit, als schon Menschen existierten und die gleichzeitige Erschaffung aller Lebensformen innerhalb weniger Stunden zählten) ließen sich nicht mit den Ergebnissen der modernen Naturwissenschaften vereinbaren. Das 
galt auch für die Annahme einer Irr­tumslosigkeit der Bibel. Die Ergebnisse der Naturwissenschaften sind immer vorläufig, denn es gibt in diesem Bereich keine Offenbarung, an der man die Ergebnisse messen kann.

Die gesellschaftlichen Vorgänge um den Prozess an sich erregten auch im Bereich der Fachwissenschaften großes Interesse, was sich nicht zuletzt darin zeigte, dass die Wissenschaftler ihren ‘Elfenbeinturm’ verließen und populäre Bücher schrieben. Den Naturwissenschaftlern war klar, dass eine Anerkennung des ‘scientific creationism’ als Naturwissenschaft weitreichende Folgen haben würde. Das Urteil, in dem Richter Overton mustergültig begründete, warum ‘scientific creationism’ Religion und keine Naturwissenschaft darstellt und daher keinen Platz an öffentlichen Schulen haben kann, bedeutete daher eine enorme Erleichterung. Die Bedeutung dieses Urteils für die Naturwissenschaften kann man daran ersehen, dass es das erste Urteil war, das in Science, der bedeutendsten amerikanischen naturwissenschaftlichen Fachzeitschrift, abgedruckt wurde.

Dieses Urteil einer niedrigen Instanz bildete zwar einen Präzedenzfall, galt aber zunächst nur lokal. Bundesweit entschieden wurde diese Frage einige Jahre später im Edwards-Prozess (Edwards vs. Aguillard, Urteil 1987) vor dem höchsten amerikanischen Gericht. Hier wurde ohne öffentliche Verhandlung aufgrund der Aktenlage entschieden, dass ‘scientific creationism’ religiös sei und daher nicht an öffentlichen Schulen gelehrt werden dürfe. Die Option, durch diese Form einer Schöpfungslehre ein Gegengewicht gegen Evolution zu etablieren, bestand seit diesem Urteil nicht mehr.

Parallel dazu hatte sich in den 1980er Jahren mit ‘Intelligent Design’ eine neue Variante der Evolutionsgegner entwickelt, die vollkommen anders argumentierte. Die Bibel trat in den Hintergrund, alle Kernpunkte des Kurzzeit-Kreationismus wurden abgelehnt. Im Zentrum stand vielmehr eine schon aus dem alten Griechenland bekannte, aber im 18. Jahrhundert vor allem durch den Theologen Paley in die Diskussion eingebrachte Überlegung, die auch als „Natürliche Theologie“ oder „Physikotheologie“ bezeichnet wird. Diese Auffassung besagt, dass aus den Einrichtungen der Natur mit dem Verstand erschlossen werden könne, dass es einen Schöpfer geben müsse. Als Argument dienten letztlich Erklärungslücken der Naturwissenschaften: Deren bisher bekannte Mechanismen reichten nicht hin, bestimmte Systeme, vor allem Lebewesen, hervorzubringen. Nur intelligentes Eingreifen sei dazu in der Lage. Über die Natur dieses Designers wurden aber keine Aussagen gemacht.

Der Jura-Professor Johnson rief auf dieser Basis die Intelligent Design-Bewegung ins Leben, die zwar vornehmlich Christen ansprach, welche ihre Differenzen zugunsten des Kampfes für ein gemeinsames Ziel (eben die Rolle von Religion in der Gesellschaft, vor allem durch deren Präsenz in öffentlichen Schulen, wieder zu stärken) zurückstellten. Im Rahmen dieser Bewegung findet man zwar auch Kurzzeit-Kreationisten, sie machen aber nur eine verschwindende Minderheit aus. Auch organisatorisch sind beide Bewegungen strikt getrennt, sie bekämpfen sich sogar gegenseitig, nicht zuletzt aufgrund von Konkurrenz um Spendengelder. Allgemein kann man sagen, dass Kurzzeit-Kreationisten zwar die Argumente der Intelligent Design-Vertreter schätzen und verwenden, aber inhaltlich durch die Orientierung an der Bibel weit darüber hinaus gehen. Die treibende Kraft, die hinter der Intelligent Design-Bewegung steht, ist das Discovery Institute in Seattle.

Wissenschaftlich am Intelligent Design-Ansatz ist nach dem Anspruch dessen Vertreter vor allem die Auf­klärung von Erklärungslücken in den Naturwissenschaften. Dadurch soll auf der einen Seite der Status der wissenschaftlichen Evolutionstheorie geschwächt, auf der anderen religiös motivierte Positionen begründet werden. Das Schlagwort war nun ‘teach the problems’: Im Unterricht sollte gelehrt werden, dass auf der einen Seite die wesentlichen Fragen durch die Naturwissenschaft noch nicht beantwortet sind, auf der anderen Seite im Intelligent Design eine naturwissenschaftliche Alternative besteht.

Diese Auffassung war die Basis für den vorläufig letzten großen Prozess zum Thema Evolution und Schule, dessen Urteilsverkündigung sich am 20. Dezember 2015 zum 10. Male jährte. Dieser Prozess (‘Dover-Prozess’, ebenfalls ‘Scopes II’ benannt) wird in der nächsten Ausgabe der MIZ geschildert.