Schwerpunktthema | Veröffentlicht in MIZ 3/17 | Geschrieben von Nicole Thies

Den Konservativen und Reaktionären die Argumente ablaufen…

Das selbstbestimmte Leben gilt als eines der wichtigen Ziele in säkularen Kreisen und darüber hinaus. Sexuelle und reproduktiven Selbstbestimmung ist das Recht der Frau, über ihren Körper zu verfügen, und folglich die klare Forderung nach ersatzloser Streichung des § 218 und § 219 StGB, wie auch der IBKA in seinem politischen Leitfaden definiert.

Darin ist ebenso gefordert, den Beratungszwang abzuschaffen und ergebnisoffen zu beraten. „Sachlich kompetente, weltanschaulich neutrale Beratungsstellen für sexuelle Fragen, Familienplanung, Schwangerschaft und Schwangerschaftskonfliktberatung müssen flächendeckend bereitgestellt werden“ gehört zu den grundsätzlichen Forderungen, die Frauen einen sicheren Schwangerschaftsabbruch ermöglichen. Soweit so gut.

Nun zu einem weiteren Aspekt: Die Entscheidung für das Kind ist positiv gefällt und die Erwartungen und Hoffnungen in die Schwangerschaft, Geburt und alles, was danach folgt, geschürt und klar. Jede Schwangere kann pränatale Diagnostik (PND) – vor
geburtliche Untersuchungen – in gewissem Umfang kassenärztlich durch
führen lassen, um das Normalwachstum abklären zu lassen. Was jedoch, wenn 
die Diagnostik auf eine „Fehlbildung“ 
hinweist? Wie ist es dann bestellt um den Begriff der Selbstbestimmung und die Debatten um Schwanger­schaftsabbruch? Was ist – unter der Perspektive der Selbstbestimmung – davon zu halten, wenn mehr als 90% der Schwangerschaften, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Trisomie 21 festgestellt wird, abgebrochen werden? Was bedeutet das für die Sichtweise der Gesellschaft auf angeborene Be­hinderungen? Wer bestimmt hier tatsächlich – Frauen selbst, ihre Herkunft, ihr Milieu, ihre Bildung oder Ärzt_innen, der medizinisch-technologische Fortschritt, das profitable Geschäft mit dem Kinderwunsch bzw. den Wunsch­kindern? Oder mit internationalem Blick: die Geschlechterordnung in der 
Gesellschaft bzw. die Familien- und Bevölkerungspolitik, wenn die Geburt von 
Jungen der eines Mädchens vorgezogen 
wird und ein Schwangerschaftsabbruch erfolgt (pränatale Geschlechterselek­tion)? Auf diese Bedenken muss befriedigende Antworten finden, wer am Konzept der Selbstbestimmung als gesellschaftlicher Leitlinie festhalten will. Denn die sog. „Lebensschützer“ haben längst die sozialethischen Gesichtspunkte der Debatte für sich in Anspruch genommen. Längst argumentieren die religiösen Gegner von sexueller und reproduktiver Selbst­bestimmung nicht mehr in erster Linie mit dem Willen Gottes, Zitaten aus heiligen Schriften oder einem Menschenbild aus dem vorletzten Jahrhundert. Indem sie Menschen mit Behinderung auf Demonstrationen sprechen lassen, versuchen sie den Eindruck zu erwecken, es gehe ihnen nicht um die Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts der Frau
en – sondern um die Rechte einer benachteiligten Personengruppe. Dass sich damit auch ein Perspektivwechsel von der schwangeren Frau auf das „ungeborene Kind“ (de facto Embryo oder Fötus) vollzieht, wie ihn religiöse Kreise seit je fordern, gerät dabei leicht in den Hintergrund.

Impulse als Anregung und Diskus­sionsgrundlage verstanden bieten beiden Beiträge in diesem Heft. Die Podiumsdiskussion reißt unterschied­liche Aspekte an, die eine säkulare Debatte um PND diskutieren und berücksichtigen sollte – mit dem Ziel, die 
Debatte nicht allein den „Lebens­schützern“ zu überlassen.

Wenngleich Pränataldiagnostik nur 
einen Teil der Diskussion um die reproduktive Selbstbestimmung aus
macht. So schließt Gisela Notz zu recht 
in ihrem Beitrag auch die Präimplan­tationsdiagnostik (PID) in das Diskussionsfeld ein. Invitro­fertilisation (IVF), 
Intra-cytoplasma­tische Spermieninjek­tion (ICSI), Eizellenspende, Leih­mut­terschaft etc. meinen medizinische Technologien, die sozialpolitische Kon­sequenzen haben und vermehrt haben werden. Der Bundestagsbeschluss 2017 sagt ja zur Ehe für alle. Das vor wenigen Wochen gefasste Urteil des Bundesfassungsgerichtes spricht sich 
für die Einführung eines dritten Geschlechtes aus. Mit der Öffnung der Familienmodelle haben Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transgender und Intersex in logischer Konsequenz ein Recht auf sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung. Aber was bedeutet dieses Recht?

Von religiösen Kräften seit jeher als 
„Egoismus“ abgewertet, wird Selbst­bestimmung mittlerweile nicht mehr in erster Linie in seiner zentralen Schutzfunktion für das Individuum gegenüber dem Staat oder Gemeinschaf­ten, die Anspruch auf die betreffenden Menschen erheben (wie beispielsweise Religionsgemeinschaften auf die Kinder ihrer Mitglieder), gesehen. Gerade auch aus dem linken Spektrum wird die Idee, dass es immer noch der einzelne Mensch selbst ist, der für sich die besten Entscheidungen treffen kann, zunehmend in Frage gestellt. Und die Argumentationen sind nicht immer so ohne Weiteres von der Hand zu weisen.

Denn natürlich findet „Selbstbestim­mung“ stets innerhalb gesellschaftlicher Rahmenbedingungen statt. Und diese führen zu unterschiedlichen Lebensbedingungen, die sich wiederum auf die Möglichkeiten, zwischen denen sich die Menschen entscheiden können, auswirken. Ein schlechter ökonomischer oder sozialer Status kann die Entscheidungsfreiheit einschränken – ganz einfach weil bestimmte Optionen dann gar nicht existieren. Ähnliches kann beispielsweise auch für die Zugehörigkeit zu einer Minderheit gelten. Diese Bedingtheiten sind unter dem Gesichtspunkt der Selbstbestimmung einzubeziehen und der derzeitige Gegenwind fordert die Debatte. Gehen wir’s an!